TEXT: ULRICH DEUTER
Sie ist gewiss einer der faszinierendsten Bauten Nordrhein-Westfalens (den Kölner Dom eingeschlossen) und eines der wenigen Wunder der jüngeren Architekturgeschichte: »Maria Königin des Friedens« in Neviges. Dabei ist die im Mai 1968 geweihte Wallfahrtskirche in dem heute zu Velbert gehörigen bergischen Fachwerkstädtchen vollständig aus einem Werkstoff errichtet, der zum Synonym für Starrsinn und Brutalität geworden ist: Beton. Sichtbeton. In jenen Aufbruchsjahren jedoch symbolisierte das Zement- Kies-Gemisch die Botschaft der Zeit: unbedingte Modernität, Freiheit. Auch die Freiheit des Baumeisters, beinah erlöst vom Diktat von Stütze und Last zu türmen, zu wölben und zu decken, was die Phantasie des Künstlers, der in jedem guten Architekten schlummert, hergab.
Im Falle Neviges’ wuchs der Bautraum aus den Händen des gelernten Bildhauers und im Kopf des gelernten Architekten Gottfried Böhm, geboren 1920 in Offenbach, Sohn des angesehenen Kirchenbaumeisters (und Baumeistersohns) Dominikus Böhm (1880–1955), der 1926 mit seiner Familie nach Köln zog, wo die Dynastie mittlerweile in der vierten Generation, mit Gottfrieds drei Söhnen Peter, Paul und Stephan, Architektur von Rang produziert. Ihm, Gottfried, widmet jetzt (nach Dominikus 2005) das Kölner Museum für Angewandte Kunst eine Ausstellung – Retrospektive auf einen Mann, der nicht nur, aber vor allem eines gebaut hat: Kirchen. 69 an der Zahl, die allermeisten in Nordrhein-Westfalen. Mit dem Nevigeser Mariendom (1961–73) als Höhepunkt.
Neviges liegt im Tal und am Hang, der Dom auf halber Höhe. Überwältigend ist der Schritt hinein. Nicht unähnlich der Wirkungsweise gotischer Kathedralen, die im Innern eine Weite offenbaren, die ihre äußere Gestalt verschweigt, besitzt auch der Nevigeser Dom zwei Körper: Der äußere ist ein geduckter, zu unregelmäßigen Wänden, Spitzen und Schrägen zerbrochener Block von mäßiger Größe. Der innere ist ein in die Höhe schießender, sich in immer neue Richtungen, zu immer neuen Aspekten öffnender Raum von gefühlt doppeltem Ausmaß. Zeigt die Außengestalt Bunker-Schwere, so vollzieht sich innen die Transfiguration desselben Betons in Zeichenhaftigkeit. Die Wände, Stützen, Schräg- flächen wirken wie immateriell; zunächst glaubt man sich in reinen Raum versetzt.
»Maria Königin« ist eine nur schwer zu begreifende, beinah unmöglich zu beschreibende Konfiguration aus Dutzenden immer neu und anders zueinander gestellten unregelmäßigen Polygonen auf dito unregelmäßig kreiselndem Grundriss. Sie besitzt keine Decke und keine Gewölbe, der Raum schließt sich auf kristalline Weise mit mehreren Firstpunkten in 34 Metern Höhe selber.
Beim Licht endet die Analogie zur Gotik, Böhms Opus maximum hüllt sich in Dämmer. Zwar öffnen zwei bauhohe Glasflächen in Altarnähe den Raum, das Glas jedoch ist grau, violett und rot (zeigt, von Böhm selbst entworfen, die von ihm geliebte Rose, das Mariensymbol) und dringt nicht in den übrigen Teil der Kirche. Und vor allem nicht in und auf die drei Ebenen hoch sich ballenden Nischen, Emporen, Kanzeln, Logen und Durchbrüche, die aus dem Beton gehauen oder aus ihm herausgewuchert scheinen und der gesamten rechten Raumseite das Aussehen einer Stadt im Gebirge geben. Man könnte hundert Bilder von diesem Raum machen und hätte doch keine zwei gleichen.
Gottfried Böhm hat im Laufe seiner 60-jährigen Tätigkeit als Architekt andere Faltdachkons-truktionen gebaut, die wie Raum gewordene Bilder von Lyonel Feininger aussehen – St. Gertrud in Köln (1960–66), St. Ignatius in Frankfurt/Main (1961–65), das Kinderdorf in Bergisch Gladbach (1962–68). Aber keine ist so vollendet wie Neviges. In den Jahren davor hat Böhm Kirchen mit Gewebedecken entworfen, die sich wie Stoffbahnen bauschen (Neuss), mit Dächern, die an Zelte oder Sprungschanzen erinnern (Köln-Melaten, Essen-Katernberg), mit (Schein-)Gewölben, Schalen-, Falt und Flachdächern. Was mit Beton zu machen war, hat er gemacht. Und er mag den Werkstoff immer noch, sagt er. Von Anfang an aber, der 1950 bei der Kölner Kapelle »Maria in den Trümmern« liegt, sind Böhms Kirchen dem Bemühen geschuldet, den massenhaft die deutschen Nachkriegsstädte verschandelnden Unbauten einen Gestaltungswillen entgegenzusetzen. »Das Pathos, gelegentlich auch das Outrierte mancher Bauten Böhms aus den 60er Jahren erklärt sich daraus«, schreibt der Nestor der deutschen Architekturgeschichte, Wolfgang Pehnt, im Katalog der Ausstellung.
Böhms Kirchen stehen in Münster, Neuss, Velbert, Essen, Oberhausen, Düsseldorf, Bochum, Gelsenkirchen, Bocholt, Aachen und vor allem in Köln. Nach den Kirchen (in den 80er Jahren war Schluss) kamen Profanbauten wie die WDR-Arkaden (1991–98) und die Wohnanlagen Chorweiler (1969–74) in Köln. Berühmt ist sein Rathaus in Bensberg (Bergisch Gladbach) – hierfür, für die Hauptverwaltung Züblin in Stuttgart (1981–85) und für den Nevigeser Dom wurde ihm 1986 als bislang einzigem deutschen Architekten der Pritzker-Preis verliehen. Auch Bensberg ist ein gutes Beispiel für das, was, bei aller Unterschiedlichkeit der Böhm’schen Bauten, ihnen gemeinsam ist: die Liebe zur Umgebung. Kontextbezogenes Bauen, wie man unter Architekten sagt. Es ist hinreichend nachgewiesen, wie einfallsreich das Faltdach des Wallfahrtsdoms mit seinen Schrägen und Winkeln auf die Giebellandschaft der Nevigeser Altstadt reagiert. Ähnlich liefert das Bensberger Rathaus subtile Über- gänge zwischen einem sanften Betonbrutalismus und den Resten der mittelalterlichen Burganlage: die »Bürgerburg« (Pehnt) auf dem Grundriss des Bergischen Kastells entstand 1962–67 als Böhms erster großer Profanbau, machte den Architekten erst wirklich bekannt.
Das Ensemble markiert allerdings auch ganz gut die Grenzen des großen Baumeisters, der immer da überzeugt, wo er frei entwerfen kann. Und der dort einer gewissen Enge und Kleinbürgerlichkeit nicht entkommt, wo er Zwecke erfüllen muss. So bietet der in den Himmel wirbelnde Treppenturm des Bensberger Rathauses ein Beispiel für gebautes Abheben (scheint die expressionistischen Träume Bruno Trauts von »Haus des Himmels« von 1920 zu verwirklichen). Während die Bürogeschosse rechts und links daneben die Beklemmung öder Scheibenarchitektur vermitteln. Hier stoßen wir an den Umstand, dass Böhms unzweifelhafter Wunsch, mit menschlichem Maß, ja bescheiden zu bauen, ihm gelegentlich zur Spießigkeit missriet. Das kann man in den Pfarrzentren in Düsseldorf-Garath (1962– 70) und Essen-Kettwig (1973–77) erleben. Zeit seines Lebens hat Böhm sich an einem Raum-typus abgearbeitet, den man »eingehausten Stadtraum« nennen kann, einem Innenraum, der zu- gleich Merkmale des Außen trägt (und umgekehrt). Wo er gelingt, wie in Neviges, erzeugt er eine aufregende, unruhig machende Spannung zwischen Angekommen- und Unterwegssein. Wo er nicht gelingt, atmet er den Geist der Fußgängerzone. Böhms Bauten fehlt der Wunsch, überwältigen zu wollen. So ist Böhms Architektur Provinz im guten Sinne.
In seinem so unterschiedlichen Werk, das zu immer neuen, überraschenden Lösungen fand, lässt sich alles entdecken, nur das Monumentale nicht. »Da irren Sie aber«, widerspricht der Architekt im Gespräch über sein Werk. Das Monumentale habe ihn durchaus fasziniert. Neviges zum Beispiel sei das Ergebnis. Und in der Tat, er hat, als »Geheimauftrag« Helmut Kohls, dem Berliner Reichstag schon 1985 eine große Kuppel entworfen, in ihr sollte das Parlament tagen. (Verwirklicht wurde der Plan Norman Fosters, der – wie und warum auch immer – Böhms Kuppel-idee umsetzte.) Andererseits: Sein Kaufhaus in Berlin (1992–95) ist mächtig, kantig kubisch und doch zugleich filigran – gutes Beispiel für Böhms nachkirchliche Phase, in Stahl und Glas zu bauen. Knapp 200 realisierte Bauten addiert der Katalog der Ausstellung und mehr als 250 Entwürfe, die allein oder gemeinsam mit dem Vater oder den Söhnen entstanden sind. Naturgemäß kann das Museum nichts davon zeigen, bietet aber Exkursionen an sowie eine Fülle von Zeichnungen (aus dem Bestand des Deutschen Architekturmuseums Frankfurt, das die Ausstellung konzipierte). Außerdem zu sehen: Skulpturen – Gottfried Böhm, wie gesagt, ist gelernter Bildhauer. Und so gleichen seine Entwürfe – oft wuchtige Kohlezeichnungen – eher einem Kunstwerk, verweisen nicht auf etwas noch zu Erstellendes, sondern bringen in ihren Strichen selbst Geschichte, Emotion, Zeit zum Ausdruck.
Gottfried Böhm hat so unterschiedlich gebaut, dass man ihm einen Stil absprechen würde. Bei näherem Hinsehen und Vergleichen aber ist etwas Verbindendes mehr fühl- als erkennbar. Dasselbe gilt für die ganze Familie: eine Mischung aus starker Differenz und spürbar Gemeinsamem zwischen Dominikus, Gottfried, seinen Söhnen. Lässt sich das benennen? »Mmh«, antwortet Böhm, der groß gewachsene, immer still lächelnde alte Herr mit dem Kopf eines römischen Senators. »Sie möchten wissen, was der Rote Faden ist?« Ja, ich möchte. Aber ich bekomme keine Antwort. Gottfried Böhm schweigt. Auch sein Sohn Peter, hilfsweise danach gefragt, um welche Begriffe denn die Gespräche zwischen Vater und Söhnen, die im selben Kölner Haus ihre Büros haben, kreisen, tut sich schwer mit der Antwort. Dass Architektur Sinn haben müsse, darum sei es oft gegangen. Und was es bedeuten könne, heute modern zu bauen. Und dass die Leute mit den Bauten glücklich leben können müssten. »Schwierig«, sagt er. Dann schweigt auch er.
Anders herum gefragt: Was kritisiert Gottfried Böhm an der derzeitig entstehenden Architektur? Hier gibt es schon eher eine Antwort: »Dass sie oft nur sie selbst sein will und keine Gemeinschaft sucht, oft nicht mehr das Gemeinsame eines Stadtbildes will. Ich hoffe, dass bei meinen Bauten das Gemeinschaftliche vorhanden ist.« Die Gebrochenheit seiner Räume, ist sie Ausdruck einer Verunsicherung in der Welt? – »Nein, eher eine Art Versicherung. Man lebt doch offener heute.«
Vor kurzem (2006) hat Böhm den Neubau des Potsdamer Theaters fertig gestellt – ein Ensemble schwebender Schalen und damit wieder etwas ganz anderes. Derzeit sitzt er an dem Entwurf für eine Kerzenkapelle, die dem Nevigeser Dom vorn angebaut werden soll, um der fortschreitenden Verrußung des Kirchenraums Einhalt zu gebieten. »Da bin ich gerade dran. Und es macht mir auch Spaß.« Am 23. Januar ist Gottfried Böhm 89 geworden.
»Gottfried Böhm – Felsen aus Beton und Glas«.Museum für Angewandte Kunst, Köln, bis 26. April 2009. Katalog 32 €. Tel.: 0221/221-26735. www.museenkoeln.de