Nobel wie Marmor, beinahe so weich und warm wie menschliche Haut – Alabaster eignet sich hervorragend für wirklichkeitsgetreue Skulpturen und war deshalb in der Vergangenheit besonders beliebt für Porträts oder Grabdenkmäler. Das Museum M im belgischen Leuven widmet dem milchweißen Material eine eigene Ausstellung. Parallel läuft eine Soloschau von Kato Six – auch im Schaffen der belgischen Bildhauerin steht die Wahl des angemessenen Werkstoffs im Mittelpunkt.
Wer 75 Jahre verheiratet ist, darf Alabaster-Hochzeit feiern. Getoppt wird sie nur noch von der Engelshochzeit (85 Jahre). Die Hierarchie der ehelichen Jubiläen wirft ein Schlaglicht auf die Wertschätzung, die der Alabaster genießt. Gewiss ist es auch kein Zufall, dass Athlet*innen mit makellosem Wuchs ein »Alabasterkörper« zugeschrieben wird. Dass der Gips mit dem gewissen Etwas in der Kunstgeschichte vor allem zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielte, davon kann man sich derzeit im M Leuven überzeugen. Gemeinsam mit dem Pariser Louvre hat das städtische Museum östlich von Brüssel eine Skulpturen-Ausstellung organisiert, in der sich alles um das feinkörnige, durchscheinende Material dreht, dessen Farbigkeit von Weiß bis Honiggelb reicht. Wegen der geringen Härte fand Alabaster oft bei kunsthandwerklichen Objekten und Schmuckgegenständen Verwendung. Die im Vergleich zu Marmor deutlich geringere Wetterfestigkeit beschränkt die Einsatzmöglichkeiten des Materials allerdings auf Innenräume.

Den Mittelpunkt der Schau markiert der 6,50 Meter hohe St.-Anna-Altar (1610); er stammt aus dem Cölestiner-Kloster im Leuvener Stadtteil Heverlee und zählt heute zu den Spitzenwerken der Museumssammlung. Auf dieses frühbarocke Retabel reagiert die belgische Bildhauerin Sofie Muller (Jahrgang 1974), die sich auf Alabaster und Bronze spezialisiert hat, mit eigenen Werken. Die fragmentarischen Köpfe der Künstlerin, die hierzulande von der Kölner Galerie Martin Kudlek vertreten wird, betonen die Brüchigkeit der menschlichen Existenz. Weitere Highlights der Ausstellung sind eine Skulptur der heiligen Katharina von Alexandrien (um 1370) aus der Onze-Lieve-Vrouwekerk in Kortrijk, eine um 1460 in den südlichen Niederlanden gemeißelte Schmerzensmann-Darstellung aus dem Antwerpener Museum Mayer van den Bergh, das Grabmal des 1543 gestorbenen Admirals Philippe Chabot aus dem Louvre – es gilt als eines der Hauptwerke der Renaissance-Skulptur in Frankreich – sowie eine um 1560 datierte schlafende Nymphe des Antwerpener Bildhauers Willem van den Broecke, die den Weg aus dem Rijksmuseum Amsterdam nach Leuven gefunden hat. Weil kein anderes Gestein in seiner Wirkung der menschlichen Haut so nahekommt, besaß Alabaster bei Porträtskulpturen und Grabmalen nicht zuletzt eine symbolische Bedeutung. Schien es doch über die wundersame Gabe zu verfügen, Tote wiederzuerwecken.

Bis ins antike Ägypten lässt sich die Verwendung von Alabaster zurückverfolgen. Benannt nach der oberägyptischen Stadt Alabastron, unterscheiden die Expert*innen zwei Mineralien: einen durchscheinenden Kalksinter und einen hellfarbigen dichten Gips. In Europa wurde Alabaster allerdings erst im 14. Jahrhundert beliebt. Als günstigere Alternative zum Marmor, dem es zum Verwechseln ähnlich sieht, bewährte es sich bei gotischen Retabeln, barocken Altären, vollplastischen Werken, Reliefs oder filigranen Kunstkammer-Stücken. England, Spanien, Frankreich, die Niederlande, Deutschland und Polen waren die Zentren des Alabasterkults.
Im Vorfeld der Leuvener Ausstellung haben mehrere französische Forschungsinstitute unter Federführung des Louvre die Exponate untersucht. Mit Hilfe einer Isotopen-Analyse fanden sie beispielsweise heraus, aus welchen Steinbrüchen das Material für die verschiedenen Objekte gewonnen wurde. Kombiniert mit Erkenntnissen zu deren Auftraggebern und den Handelswegen in Mittelalter, Renaissance und Barock, gelang es, das Wissen über die französische und flämische Alabaster-Kunst deutlich zu vermehren. Alabaster, so die Forscher*innen, sei »einer der Newcomer im sogenannten ‚material turn‘, der sich in den vergangenen Jahren vollzogen hat«. Was damit gemeint ist: Multidisziplinäre Materialstudien sind mittlerweile ebenso unverzichtbar wie die traditionellen kunsthistorischen Methoden Stilanalyse oder Ikonographie.

Auf den ersten Blick gibt es zwischen der Alabaster-Ausstellung und der parallelen Werkübersicht der Brüsseler Künstlerin Kato Six keine Berührungspunkte. Schaut man jedoch genauer hin, so wird klar, dass Six die von ihr bevorzugten Werkstoffe mit derselben Akkuratesse und Liebe zum Detail einsetzt, wie das die Alabaster-Virtuosen der Vergangenheit taten. Textilkunst, Plastiken, Bildobjekte und Zeichnungen kann man im Museum M entdecken. Oft spielen die Arbeiten auf Verrichtungen im Haushalt an, beispielsweise Stricken und Häkeln. Augenfällig auch jene Werke, bei denen Kato Six Seile so ineinander verschlingt, dass sie auf dem Boden dynamische Kaskaden bilden. Mit ihren »Spinning Lines, Twisting Thoughts« spielt die Künstlerin auf die verwickelten Gedanken an, die den Durchblick beizeiten erheblich erschweren können. Eine Gefahr, die im Museum M Leuven zum Glück nicht besteht.
»Alabaster«, »Kato Six«, Museum M Leuven, beide bis 26. Februar 2023