Im Spätmittelalter war Brügge nicht nur eine der bedeutendsten Wirtschafts- und Kulturmetropolen in Europa. Darüber hinaus entfaltete die heutige Hauptstadt der Provinz Westflandern Strahlkraft als Zentrum des Glaubens. Besonders die »Ampulle mit dem Blut Christi«, als Reliquie in der Heilig-Blut-Basilika Gegenstand der Verehrung, machte die Stadt zu einem Anziehungspunkt für Gläubige von nah und fern.
So kommt es nicht von ungefähr, dass Brügge die erste Ausgabe seines Reiefestivals unter das Motto »Geloof« (»Glaube«) gestellt hat. Vom 18. bis 20. August sind bei dem Outdoor-Event 14 Performances zu erleben. Eine Jury hatte sie unter 104 Bewerbungen ausgewählt. Um den Teilnehmer*innen des Wettbewerbs Anregungen für das religiöse Thema zu geben, wurde sogar eine »inspiration box« eingerichtet – in der verschiedene Organisationen, die sich mit dem historischen Brügge beschäftigen, Informationen zum christlichen Erbe hinterlegten. Kirchliche Feste und Rituale, Heiligenverehrung und Reliquienkult, Aberglaube und Hexenverbrennung, Volksfrömmigkeit und Votivtafeln – all das soll beim Brügger Reiefestival künstlerisch reflektiert werden. Mit Performances, Theater, Workshops und Installationen.
Charakteristisch für die malerische Altstadt von Brügge – UNESCO-Weltkulturerbe seit 2000 – sind die Kanäle. Reien werden sie von den Einwohner*innen genannt. Der Ausdruck stand Pate bei dem neuen Festival, das zukünftig alle drei Jahre stattfinden soll. Neben der Stadt Brügge sitzen drei Organisationen im Boot: Brugge Plus, das Kunstzentrum KAAP und Concertgebouw Brugge.

Startet das Festival in Brügge selbst erst am 18. August, so geht es im Seehafen Zeebrugge, rund 14 Kilometer nördlich, schon am 7. August los: Im Icarus Surf Club nimmt der flämische Schauspieler und Autor Peter De Graef das Publikum bei seiner Lesung »Captain Nemo« mit auf eine turbulente Unterwasserreise – angelehnt an Jules Vernes Klassiker »20.000 Meilen unter dem Meer«.
Von den 14 Veranstaltungen (für neun braucht man ein Ticket, fünf sind kostenfrei) finden zwölf unter freiem Himmel statt. Im Howest’s Gym laden Myriam Van Imschoot und Lucas Van Haesbroeck die Festivalgäste an zwei Nächten zu einer Langzeit-Meditation ein: Bei dem Sound-Projekt »Nocturnes For A Society« geht es darum, gemeinsam ein »zeitgenössisches Wiegenlied« zu kreieren. Derweil präsentiert der Antwerpener Künstler Benjamin Verdonck im einstigen Wohnhaus des belgischen Komponisten Joseph Ryelandt das Multimedia-Spektakel »Locus iste«.
Gottes Geist weht, wo er will, so lautet eine oft zitierte Formulierung. Diese Vielfalt spiegelt sich auch im Programm des Reiefestivals. Während zeitgenössische Kunst oft Berührungsängste vor traditionellen Formen des Glaubens hat, soll der Dialog beim Festival unbefangen und mit großer Offenheit und Neugier geführt werden. Etwa durch die italienische Performance-Künstlerin Azzurra De Gregorio. Im Zentrum ihres Workshops »P.G.R.« stehen Votivtafeln, also jene kleinen, ganz persönlichen Bilder mit Inschrift, die einem Heiligen aufgrund eines Gelübdes geweiht wurden. Unter ihrer Anleitung sollen die Teilnehmer*innen ihre eigenen Votivtafeln anfertigen, um die Magie des Glaubens in ihrem Alltag zu verankern.
Auf den Brauch des feierlichen Umzugs der Gläubigen beziehen sich Nadav Perlman und Rino Sokol mit ihrer »Procession«, bei der jeder mitwandern kann. Der gemeinsame Marsch startet am Beginenhof, streift verschiedene Sehenswürdigkeiten der Stadt und endet in Form einer Zeremonie vor der St.-Salvator-Kathedrale. Auch Johannes Verschaeve, bekannt als Frontmann der Band The Van Jets, will durch Brügge pilgern, um an diversen Plätzen seine Performance »Johannes Is Zijn Naam (John is His Name)« aufzuführen.
Ein mittelalterliches Märchen haben Lola Bogaert, Sara Haeck und Yinka Kuitenbrouwer in die Gegenwart transformiert. »Beatrice: A Simple Medieval Miracle Tale – Except Not« handelt von einer Nonne, die ihr Klosterdasein aus Liebe zu einem Mann beendet und mit ihm eine Familie gründet. Doch als das Geld knapp wird, macht er sich aus dem Staub. Um ihren Nachwuchs durchzubringen, verdingt sich Beatrice als Prostituierte. Am Ende kehrt sie ins Kloster zurück und überlässt die Kinder einem ungewissen Schicksal. In ihrem Theaterstück unternehmen Lola Bogaert, Sara Haeck und Yinka Kuitenbrouwer den Versuch, sich in die Lage von Beatrice zu versetzen. Und sie fragen, wie deren Handeln aus heutiger Sicht zu bewerten ist.
An die sogenannten Hexenverbrennungen, eines der finstersten Kapitel religiöser Praxis im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, erinnert das Ensemble Krapp vzw mit seiner Theater-Performance »De Duivels (The Devils)«. Dabei beziehen sie sich auf einen Prozess, der im 17. Jahrhundert in der französischen Stadt Loudun stattfand. Dort wurden Jeanne Des Anges, Äbtissin eines Ursulinen-Ordens, und ihre Mitschwestern angeklagt, von einem Dämon besessen zu sein. Bei der Suche nach dem Teufel, der das Schreckgespenst gesendet hat, gerät der liebestolle Priester Urbain Grandier selbst ins Fadenkreuz. »De Duivels (The Devils)« findet in Form einer zeitgenössischen Gerichtsverhandlung statt – dabei agiert das Publikum als Jury.
Reiefestival, Brügge, 18. bis 20. August