// 50 Jahre liegen Marivaux’ Komödie »La seconde surprise de l’amour« und ein als Skandal aufgenommener Briefroman auseinander, der die Accessoires und Allüren aus höfischer Tändelei, Gefühlskonfusion und Geschlechterkampf abstreift und dieselben Motive und Themen im revolutionären Vorschein erotischer und moralischer Anarchie marsrot einfärbt. Choderlos de Laclos’ »Liaisons dangereu- ses« beenden gewissermaßen das 18. Jahrhundert auf literarische Weise ebenso schneidend scharf wie das Fallbeil der Guillotine, während dessen Vorgänger Marivaux in seinen fast 40 (!) Stücken scheinbar arglos den galanten Leichtsinn des Rokoko aufrüscht. Stets aufs Neue variiert er das Spiel von Liebe und Zufall wie im chemischen Reaktionstest.
Unterschätzen soll man diesen Dichter der Empfindsamkeit deshalb nicht. Bei beiden Autoren ist die Sprache das Instrument der Herrschaft und die virtuos geführte Waffe, doch wo bei Laclos Marquise und Vicomte sich aneinander blutig reiben, lassen bei Marivaux Marquise und Chevalier genügend Abstand, um nicht zu Tode zu kommen. Bei beiden löst der Liebes-Impuls die Kommunikation aus: als destruktive Elementargewalt. Bei Marivaux ist die Liebe ein Gefecht, bei Laclos ein Gemetzel, vielleicht aber sind die unsichtbar inwendigen Blessuren nicht minder schmerzhaft und tödlich, als die klaffend geschlagenen Wunden. Auf dem Feld der Liebe liegen am Ende nur Opfer.
Also hört man ein Seufzen. Zunächst ist da nur ein schweres Atmen, mit dem Luc Bondy seine sublime Inszenierung von »La seconde surprise de l’amour« beginnen lässt. Nach der zweistündigen Momentaufnahme einer amourösen fröhlichen Fatalität meint man im Staunen, Ratlosen und Gelangweilten der Mienen der zwei Hauptfiguren auch den Seufzer herauszuhören, der künftig ihr (gemeinsames) Leben begleiten wird.
Mit diskreter Ironie, amüsierter Überlegenheit gegenüber den Unsicherheiten, mit singspielhaftem Witz und Sinn für die Komik des Begehrens und die Flüchtigkeit der Dinge betrachtet der Regisseur das Treiben der Marivaux-Menschen. Sie setzen falsche Signale und missverstehen diese zudem. In ihren maliziösen Dialogen wächst ihnen die Vernunft über den Kopf, und statt dem bon sens zu folgen, geben sie am Ende doch lieber dem Esprit den Vorzug.
Was geschieht? Eine junge Dame (Clotilde Hesme) ist Witwe geworden, ein junger honneter Herr (Micha Lescot) – ihr Nachbar – wur- de von seiner Geliebten verlassen, die die Klos-terzelle der ehelichen Kammer vorzog. Da geteiltes Leid halbes Leid sein könnte (womöglich verdoppelt es sich aber auch), tun sich die Verlas- senen zusammen, um der Freundschaft zu pflegen und sich verschämt schöne Augen zu ma- chen, um die Fülle der Möglichkeiten nicht gar zu sehr zu vernachlässigen. Denn in der Welt des Marivaux, dieses »Genies des Unvorhersehbaren« (Ivan Nagel), ist alles möglich.
Kann man unglücklich sein – und gelbe Ho- sen tragen? Eine Frage, die sich der Chevalier gefallen lassen muss, der wie ein Gimpel in eng sitzendem Charlot-Jackett und mit elastischen Bei- nen eine komische Figur abgibt, während Madame als anmutig bebrillter Blaustrumpf die Gefälligkeit des Schmerzes und originelle weibliche Logik pflegt. Der gemäß sie zwar nicht heiraten will, aber es ebenso wenig schätzt, dass man ihr einen Korb gibt.
Ihrer seelischen Befriedung könnten Bücher dienen, die ein Monsieur Hortensius – affektiert, eitel und von seiner Bildung und Bedeutung schier überwältigt – der Marquise im Einkaufskorb anträgt. Doch der alte Topos, dass der Verführer das Buch sei, taugt hier nicht. Im Gegenteil, die Lektüre spitzt die Konflikte zu. Und auch ein bejahrter Comte, der um die Marquise wirbt, kann sie nicht beglücken. Die Dienstboten Lisette und Lubin (Audrey Bonnet, Roch Leibovici) wissen – im Komödien-Genre naturgemäß – schon eher, was fruchtet: Die nachbarlichen Herrschaften sollten einander finden.
Dem entspricht die von Karl-Ernst Herrmann gleichnishaft entworfene Bühne, auf der die wie Badekabinen wirkenden Wohnstätten von Mann und Frau entlang einer Schiene voneinander abrücken oder sich aufeinander zu bewegen können. Es ist wie beim Wetterhäuschen, wo Sonnenschein und Regen die Püpp-chen entweder heraustreten oder hineingehen lassen. So wetterwendisch zeigt sich auch das Gefühl, das von Eifersucht, Begehren, Wirrnis, Misstrauen, gekränktem Stolz und verletzter Ehre durchzogen wird.
In der »Surprise« kann eben auch das Abenteuer einer bösen Überraschung enthalten sein. Diese wird zum Finale von dem heiteren, über die Kapricen kindlich staunenden Unordnung-Stifter Luc Bondy grausam (grausamer womöglich als die Torturen des Choderlos de Laclos) ins helle Licht der Aufklärung gesetzt – und mit aller Zartheit in eine freudlose Wirklichkeit. Da ahnt man die Dämonen und den Furor, wie sie einem bei Shakespeare, Ibsen oder Strindberg begegnen. Doch sind sie viel weiter entfernt als damals, 1985, als Bondy Marivaux’ »Triumph der Liebe« an der Berliner Schaubühne inszenierte. Aus dem Pessimismus dieses »seconde« Marivaux entlässt er uns mit einem sehr heutigen Lachen und einem sehr heutigen Zweifel. //
Gastspiel bei der RuhrTriennale: 9. bis 11. Sept. 2008, Jahrhunderthalle Bochum. www.ruhrtriennale.de