TEXT: STEFANIE STADEL
Er fiel nicht weiter auf: Ein unbedeutender Ratsherr im Köln des 16. Jahrhunderts, ein mittelmäßiger Magister der Universität dort, nicht gerade erfolgreich als Advokat. Ziemlich kauzig und krankhaft geizig dazu.
Sein Name wäre sicher längst vergessen, hätte Hermann Weinsberg nicht dieser Leidenschaft gefrönt: 1550, im Alter von 32 Jahren, legte er los und hörte von da an nicht mehr auf – mit dem Schreiben. Bis zu seinem Tod 1597.
Tagebücher, Rechnungsbücher, Kopienbücher, Memorialbücher – und, ganz wichtig, das »Gedenkboich der jaren …«, eine stark autobiografisch geprägte Familienchronik, die mit ungezügelter Ausführlichkeit die kleinen und großen Ereignisse des Alltags schildert. Weinsbergs fast 2.000 Seiten starke Hinterlassenschaft gilt heute als wichtigste Quelle zur Geschichte der Renaissance am Rhein. Die große Ausstellung jetzt im Rheinischen Landesmuseum kann reichlich aus diesen Aufzeichnungen schöpfen bei ihrem Rundumschlag in Sachen »Renaissance am Rhein«.
Renaissance – bei dem 200 Jahre alten Begriff denkt man zuerst an Italien und ganz besonders an seine Kunst, die ab dem 14. Jahrhundert die Formen der Antike wiederbelebte. In Bonn geht es nun aber nicht um Italien. Man schaut vielmehr ganz grob auf die Gegend zwischen Koblenz und Kleve in der Zeit von 1450 bis 1600. Und die Ausstellung hat auch nicht nur die Kunst im Auge, sondern einfach alles: Politik, Gesellschaft, Recht, Religion, Alltag, Medien, Menschen – vom Bauern über den Fürsten bis zum Bischof. Die Schau fühlt sich einem breit angelegten kulturgeschichtlichen Ansatz verpflichtet, sehr wohl im Sinne des »cultural turns« der modernen Kulturwissenschaften, die Hoch- und Massenkultur nicht länger strikt trennt.
Wie einst Weinsberg unermüdlich die Seiten seiner Chronik gefüllt hatte, so füllten nun die Wissenschaftler fleißig Wände und Schildchen im Landesmuseum mit einer Flut an Informationen – dazu noch den dicken Ausstellungskatalog. Es gibt einiges zu forschen und zu sagen, wenn man das Thema in dieser Breite angeht. Zumal wirklich viel passiert ist in jenen Zeiten des Umbruchs. Weinsberg gibt gar eine Aufstellung über »vil verenderongen in meiner zeit«: Luthers Reformation, die, so der Chronist, just in seinem Geburtsjahr begonnen und zu einer Vielzahl von Richtungen und Auseinandersetzungen geführt habe. Er sieht, wie sich auch in Köln das religiöse Leben, die Liturgie, die Predigten wandeln. Neuigkeiten registriert Weinsberg ebenfalls bei Ländern und Regierungen, Polizeiordnungen und Landfrieden. Die Schrift habe sich verändert, die Sprache, sogar die Kleidung und die Frisuren.
Im Landesmuseum nun erzählen Karten, Verträge, Gemälde, Siegel und Rüstungen zunächst von den einschneidenden historischen Ereignissen. Von Machtpolitik und von kriegerischen Auseinandersetzungen, die das Leben der Menschen am Rhein mitprägten. Da steht etwa eine Feldschlange aus dem Besitz Karls des Kühnen. Wahrscheinlich hatte der expansionsfreudige Herzog von Burgund ganz ähnliche Geschütze bei seiner Belagerung von Neuss aufgefahren, die 1474/75 scheiterte.
Der Griff nach den Ländern am Rhein gelingt Karl nicht, doch begünstigt er den Zusammenschluss der größeren weltlichen Territorien am Niederrhein: Die Ausstellung zeigt die beeindruckende »Eheberedung« von 1496, mit der sich die Herzöge von Jülich-Berg und Kleve-Mark über die Heirat ihrer damals noch fünf und sechs Jahre alten Kinder einig werden. Über 80 Siegel von Landständen der Territorien hängen an der Handschrift und beweisen, dass die Herzöge nicht mehr alles unter sich allein ausmachen konnten.
Ein Riesenpensum: Um die 350 Stücke von 120 Leihgebern kommen in Bonn zusammen, und jedes erzählt seine Geschichte. So auch Anton Woensams dreieinhalb Meter lange Ansicht von Köln – die Ausstellung kann eines der wenigen Exemplare dieses berühmten Stadtporträts von 1531 zeigen. Da bewirbt sich eine Metropole von europäischem Rang, die naturgemäß auch in der Bonner Ausstellung eine tragende Rolle spielt.
Köln war Umschlagplatz für Waren, Menschen, kulturelle Strömungen. Kommunikationszentrum mit Beziehungen in alle Himmelsrichtungen und einer herausragenden Stellung als Druckerzentrum und Nachrichtenzentrale. In der größten Stadt des Reiches lebten um die 45.000 Menschen, darunter viele protestantische Glaubensflüchtlinge, tausend Studenten und – Hermann Weinsberg.
Er konnte zusehen, wie sich auf allen Gebieten Innovationen Bahn brachen. Die Ausstellung repetiert die wichtigsten: Von der militärischen Revolution über die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern bis zum neuen Bild des Menschen und des perspektivischen Raumes.
Schön spiegeln sich der Zeitgeschmack wie auch das ausgeprägte bürgerliche Selbstbewusstsein im Porträt des Melchior von Brauweiler. Der Spross einer angesehenen Kölner Familie war 1540 nach Venedig gereist und hatte sich dort von Jan Stephan van Calcar porträtieren lassen – ein Maler, der in Tizians Werkstatt arbeitete und dessen Malweise gekonnt adaptierte.
Wohlhabende Kölner, wie Melchior von Brauweiler und auch Hermann Weinsberg es waren, pflegten einen gehobenen Lebensstil. Auf den Tafeln standen kunstvoll gearbeitetes Siegburger Steinzeug und Gläser venezianischer Art. Bestecke wurden aus dem nahe gelegenen Solingen bezogen.
All die umwälzenden Neuigkeiten der Renaissance trafen in der Stadt auf ein konservativ-bewahrendes Netzwerk. Auch Martin Luther und seiner Lehre begegnete man hier mit großem Vorbehalt. Einen sehr anschaulichen Beleg dafür liefert Bartholomäus Bruyns für den Umgang des Kölner Karmeliterklosters geschaffenes Gemälde der »Versuchung Christi«, wo der Reformator mit Krallenfüßen und Schwanz als Teufel auftritt.
Trotz wiederholter Reformationsversuche durch hiesige Erzbischöfe blieb Köln als einzige größere Reichstadt beim alten Glauben. Und mit ihm Weinsberg: »In den zeiten durch min gans leben sin groisse verenderongen in der religion untstanden«, so kommentierte er die Wirren. »Aber got hab lob und dank, das ich noch bei der alten catholischen religion, die min voreltern gehabt … bin erhalten.«
Als Arnold Mercator mit der »abconterfeitung« der »Colonia Agrippina« beauftragt wurde, war Weinsberg 53 Jahre alt. Doch obwohl er sonst fast alles aufschrieb, bedachte er diesen außerordentlichen Stadtprospekt mit keiner einzigen Zeile. Die Schau zeigt ein Faksimile und drei originale Abzüge des auf insgesamt 16 Blatt gedruckten Kupferstichs. Anders als Woensam vier Jahrzehnte zuvor kombiniert Mercator hier geschickt Aufriss und Vogelperspektive. Auch hebt der jüngere nicht länger die Kirchenbauten hervor, sondern markiert stattdessen – ganz im Geiste seiner Zeit – die damals noch sichtbaren Teile der römischen Stadtmauer und andere antike Reste in der Stadt.
Man beruft sich auf die Antike, auch in der seinerzeit erbauten Kölner Rathauslaube – ein Hauptwerk der Renaissance-Architektur in Nordwestdeutschland. Weinsberg sah, wie 1570 »eine groisse koule« für das Fundament des Neubaus gegraben wird. Es entsteht ein Repräsentationsbau ersten Ranges, mit dem der Rat der freien, nur dem Kaiser unterstellten Reichsstadt seinen Machtanspruch untermauerte.
Mit dem Bau der bis heute erhaltenen Laube neigt sich das Jahrhundert dem Ende entgegen. Und Weinsberg? Der schreibt weiter. Dabei erwecken seine Notizen mehr und mehr den Eindruck, als verstehe er seine Zeit nicht mehr.
Gedacht hatte er sein »Gedenkboich« einst für die eigene Nachkommenschaft. Doch von seinem alten Traum, ein Stammhaus zu gründen, musste sich Weinsberg langsam aber sicher verabschieden. Die Familientradition kam nicht zu Stande. Der Chronist starb ohne männlichen Nachkommen. Sein Bruder beging Selbstmord, ein Neffe wanderte unter Mordverdacht ins Gefängnis. Und die Tagebücher – sie kamen zu den Gerichtsakten und anschließend ins Stadtarchiv, wo man sie 1858 wiederentdeckte. Welch ein Glück, dass diese einzigartigen Dokumente den Kölner Archiveinsturz vor eineinhalb Jahren – wenn auch nicht unbeschadet – überstanden haben.
LVR-Landesmuseum, Bonn. Bis 6. Februar 2011. Tel. 0228/20700. www.rheinisches-landesmuseum-bonn.de