TEXT: NICOLE STRECKER
Das ging schnell: Kaum hatte er sein erstes abendfüllendes Stück herausgebracht – schon spielte er in der Top-Liga der freien deutschen Choreografen mit einer Einladung im vergangenen Jahr zur »Tanzplattform«, der Biennale von Deutschlands »Besten«. »Jailbreak Mind« lautet der Titel seiner nach wie vor gezeigten Erfolgsproduktion. Ein Stück über einen einsamen Videokiller, der sich in der Welt der Egoshooter sein Bewusstsein wegballert, bis er nicht mehr weiß, was Realität, was Phantasie ist. Auch der Zuschauer weiß in der kunstvollen Computerwelt auf der Bühne nicht so recht, was er fühlen soll: Mitleid mit dem strumpf-maskierten Melancholiker? Grusel über die Schönheit der Gewalt? Genuss an der virtuosen Inszenierung, an Priovilles hochsensiblem und erotischem Tanz? Ob hier die Gamer-Szene kritisiert oder ästhetisch affirmiert wird, bleibt offen – so manchem fehlte das »Statement« und man fragte sich, ob man ein »Hardcore«-Thema so supersoft vertändeln dürfe.
Aber Gesellschaftskritik ist Besserwisserei, die nicht jedem Künstler liegt. »Das Politische«, meint Prioville, »ist manchmal auch das Einfache. Man macht den Fernseher an, und es geht um territoriale Konflikte. Es wäre zu simpel, darüber ein Stück zu machen.« Prioville spricht über seine aktuelle Tanzproduktion »Nous«, ein Stück, in dem es um »Territorien« gehen soll – ein ziemlich typisches Tänzerthema. Die Szene demonstriert gern schon mal die Grenzüberschreitungen am eigenen Leib, schließlich gehört das »Übergriffige« zu einem Genre, in dem der eigene Körper berufsmäßig begrabscht und bearbeitet wird. Und in dem eines oft obsessiv erkämpft wird: die Erweiterung der eigenen Grenzen.
Der 1973 in einem Vorort von Paris geborene Fabien Prioville hat es damit ziemlich weit gebracht. Er war bei Kompanien mit Weltformat, tanzte zwei Jahre lang bei »Lalala Human Steps« mit der schnellsten Blondine der Szene, Louise Lecavalier. Dann kam er zu Pina Bausch, trat in so wichtigen Stücken wie »Café Müller« gemeinsam mit der Tanztheater-Ikone auf und traf seine Frau, die japanische Bausch-Tänzerin Asusa Seyama. »Aber irgendwann hat es sich angefühlt, als stecke ich in einem Loop fest«, sagt Prioville. 2006 verlässt er die Kompanie. Er hat seine Grenzen noch nicht gefunden, sucht sie in Arbeiten mit dem französischen Surrealistenstar, Josef Nadj, oder dem unerschrockenen »Forced Entertainment«-Performer Davis Freeman und entwickelt nebenbei auch eigene kleine Arbeiten. Dann sein choreografischer Durchbruch mit »Jailbreak Mind« – und jetzt der Druck, mit einem Zweitstück zu beweisen, dass er es wirklich kann.
In »Nous« sind Fragen des Territoriums Männersache. Ein Testosteron-Trio (Paolo Fossa, Moo Kim, Fabien Prioville) ringt hinter einem bedrohlich spitzen Stacheldrahtzaun um das Herrschaftsgebiet »Körper« – einschließlich einer durchaus ernsthaften Recherche nach den Tanzmöglichkeiten des männlichen Genitals. Nicht als Provokation, sondern – dezent hinter Gazé – als ganz natürliche Körpererkundung. Und doch ein Bild, das unweigerlich an männlichen Narzissmus und sexistische Gewalt denken lässt. »Beim Thema ›Territorium‹ geht es immer um Konflikte«, sagt Prioville. Um Kriege, Vertreibung, Heimatlosigkeit, aber auch die globalen Machtdemonstrationen der Wirtschaft: »Auch Produkte und Marken kämpfen um die territoriale Expansion. Ein McDonalds auf den Champs-Élysées in Paris – das ist ein starkes territoriales Statement.« Die mal subtilen, mal blutigen Kämpfe um Territorien – Fabien Prioville will sie nicht illustrieren, sondern einschraffieren: in eine unruhig-schöne Landschaft der Körper.
Uraufführung »Nous« vom 11.-12. Febr. 2011 im »tanzhaus nrw« Düsseldorf
»Jailbreak Mind« am 20. und 23. Febr. 2011 beim Schrittmacher Festival in Aachen.
www.tanzhaus-nrw.de