IM BANN DER MACHT
»JOSEPH SÜSS« VON DETLEV GLANERT IN MÖNCHENGLADBACH
Detlev Glanert ist einer der meist gespielten lebenden Komponisten an deutschen Opernhäusern. Er versteht sich darauf, mit moderat modernen Tönen auch zu unterhalten und weniger zu verstören, als viele seiner neutönenden Kollegen. Opern wie »Der Spiegel des großen Kaisers« oder »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« gehören zum Repertoire. Auch am Theater Krefeld-Mönchengladbach, wo sie mit »Joseph Süß« nun eine Glanert-Trilogie ergeben. Die 1999 in Bremen uraufgeführte Oper in dreizehn Szenen basiert auf Lion Feuchtwangers Roman; das Libretto von Werner Fritsch und Uta Ackermann erzählt das dramatische Leben des Joseph Süß Oppenheimer in Rückblenden. In Heidelberg als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, gelang ihm als Finanzbeauftragter und Berater des katholischen Herzogs Karl Alexander eine erstaunliche Karriere am Württembergischen Hof. Nach dem Tod des Herzogs schlug die Skepsis gegenüber dem Juden in lodernden Antisemitismus um: Oppenheimer wird festgenommen, angeklagt und am 4. Februar 1738 hingerichtet.
Frank Hänig hat in das Behelfstheater TIN, einer ehemaligen Lagerhalle mit niedriger Decke, deren trockene Akustik für die Sänger Mikroports fordert, eine mobile graue Kerkerwand gebaut, die schnelle Szenenwechsel erlaubt. Für die filmartigen Rückblenden findet Jan-Richard Kehls Regie starke, manchmal überdeutliche Bilder. Die Inszenierung zeigt Oppenheimer nicht als passives Opfer, sondern als gebrochenen Charakter, auch als machtbewussten Taktiker, der die Gier seines Souveräns nach Geld und erotischen Abenteuern bedient, obwohl er die eigene moralische Fragwürdigkeit erkennt. Glanerts assoziativ farbenreiche Musik, die sich stilistischer Zuordnung entzieht, ist bei den Niederrheinischen Symphonikern unter der umsichtigen Leitung von Kenneth Duryea in den besten Händen. Man macht aus der Not der heiklen Akustik eine Tugend und spitzt Glanerts bisweilen parodistisch funkelnde Musik zu. Die Sänger überzeugen mit einer geschlossenen Ensembleleistung, voran Igor Gavrilovs flexibler Bariton in der Titelpartie, gefolgt von Christoph Erpenbeck (Herzog) und Walter Planté als gerissener Gegenspieler Weissensee. | REM
ZÄHNE ZEIGEN
ZÄHNE ZEIGEN
DAS »BALLETT AM RHEIN« MIT »B.08«
Das Widerständige im Ballett provoziert immer noch. Martin Schläpfer und Regina van Berkel trauen sich da was. Im vierteiligen Programm »b.08«, das im Düsseldorfer Opernhaus Premiere hatte, präsentieren die Choreografen »Unleashing the Wolf« als Gemeinschaftswerk, dazu gibt es zwei schnittige Stücke von Hans van Manen und Schläpfers »Streichquartett«, das wie im Wachtraum auf Witold Lutoslawskis Streicher hört. Der Wolf wird nicht von der Leine gelassen, dafür wird der Zuschauer mit drangebunden, der nicht mehr weiß, wie er atmen soll.
Zwei der Bühnenwände schimmern metallisch, sind oben abgeknickt, Pfosten ragen in den Himmel. Gefängnishof und futuristischer Palast zugleich. Die dritte Begrenzung besteht aus Baumstümpfen. Auf einem Podest thront der Musiker Paul Pavey mit Schlagzeug und Flügel. Er gibt nicht einfach von oben kommandoartig den Rhythmus vor, sondern seine Musik rückt mit ruhigen Paukenschlägen, gezupften Klaviersaiten, elektronischem Nachhall und jaulend lang gezogenen Gesangstönen dem Tanz auf den Pelz. Seine Stille klingt nie friedlich, sondern lauert. Der Boden ist teilweise rot wie ein breiter Teppich; das Licht passt sich dem kaltgleißend an. Das Versprechen von Glamour und Sinnlichkeit tragen die Tänzer als erkalteten Traum mit sich herum.
Oft bewegen sie sich langsam, selbst schnelle Passagen wirken gebremst, oder heftig hohe Sprünge enden am Boden. Sie knuddeln dicke weiße Plüschschwänze, treten sie oder klemmen sie zwischen die Beine. Einmal posiert eine Frau auf dem Pelzlager wie eine Diva. Schnell rupfen ihr die Kolleginnen das Polster wieder weg. Die Damen zicken oder lassen sich wie Holz herumtragen. Einige bilden vorübergehend Gruppen, sie stellen einen Fuß mit Spitzenschuh wie eine Lanze auf und tanzen dieselben Schritte, doch mit unterschiedlich erhobenen Armen, oder sie mauscheln in einer Ecke. Sie drücken sich an die Wand, spähen lustlos. Sie tanzen auch mit Männern, ohne dass dabei je etwas Gemeinsames entstünde. Einmal beugt sich eine über die Andere, hebt sie sanft von hier nach da, als wolle sie ihr den Kontakt mit dieser verdammten Welt ersparen. Natur und Mauer, Wachsendes und Erstarrtes spielen hier miteinander ein »Fast ist es zu spät«. | SUCHY
ICH, ACH WAS!
»DIE DREIGROSCHENOPER« VON BRECHT/WEILL IN KÖLN
Mehr Distanzierung geht nicht. Die Figuren der »Dreigroschenoper« stehen, staunen, lernen: ihren Text. Der läuft nebst allen Regieanweisungen über ein Laufband in signalroten Buchstaben. So blinkt ständig als SOS: Verfremdung! Der Gangster Macheath, Bettlerkönig Peachum und die Damen Celia und Polly – alles Menschen ohne Eigenschaften – müssen sich am Texthimmel ihrer Handlungen und Gedanken vergewissern, die ihnen der Autor, der epische Bertolt Brecht, in den Mund legt. Also stehen sie da, Funktionsträger in Anzug oder Parka, und heben sich ab: zunächst von sich selbst, dann vom Stück, sowie überhaupt vom schönen Gefühl, dem der Zuschauer sich irrigerweise hingeben könnte.
Mackie Messer tritt sich selbst, verdreifacht (Yorck Dippe, Robert Dölle, Renato Schuch), entgegen. Soll heißen: Ich ist ein anderer Mac. Aber letztlich benimmt sich dieses coole Trio auch nur so radikal wie »Die Drei von der Tankstelle«. Eine niedlich radebrechende Japanerin (Sachiko Hara) gibt eine Pokémon-Polly, ein Manga-Mädchen und Kindfräulein, das in letzten Zuckungen daniederliegt, aber fröhlich aufersteht und sich ebenfalls multipliziert. Identitäten wechseln so fix, wie das Mikro von Hand zu Hand geht. Gelegentlich wird gerempelt, um doch mal Ich sagen zu können, sich sexuell mannbar zu behaupten (auf rosa schaukelnden Riesen-Plüsch-Eiern)und das flüchtige Selbst zu haschen.
Die Moritat der »Dreigroschenoper« über Verbrecher, Bettler und Polizei, über Fressen und Moral, das Geschlechtliche, Gesellschaftliche und Geldliche gibt Nicolas Stemann zur performativ lustigen Besichtigung frei. Der Regisseur, der vor neun Jahren Brecht/Weills Klassiker in Hannover inszeniert und nun am Kölner Schauspielhaus kaum weiterentwickelt hat, bleibt seinem Urmotiv treu, das er bei Jelinek, aber auch bei Shakespeare, Goethe und Schiller anwendet: Bloß keine Identifikation. Einfühlung, nein danke. Die Fiktion des intakten Individuums wird bloßgestellt (auch wenn ihr Zerstörer Stemann durchaus dauerhaft seine höchstpersönliche Handschrift pflegt). Aber Widersprüche gehören zum Leben: Man betrachte nur Mackie, den Seelen-Killer.
Auf kalt geleuchtet blauer Lounge-Bühne (Katrin Nottrodt) ist die vorzügliche Band in den Background hinter Klapptüren abgeschoben. Alle sentimentalen Schichten, die das Werk seit 1929 angesetzt hat, sind abgekratzt: der Schimmel des Süffig-Satten, Gemütlichen, Revue-Seligen. Durch Stemanns Einblendungswerk hindurch schieben sich aber doch pralle Diven-Tüchtigkeit (Lucy mit Opern-Furor: Sonia Theodoridou), Pailletten und rote Milva-Mähne (Anja Laïs als Misses Peachum) und das Roaring-Twenties-Feeling mit Beinen, Strapsen, Lack und Leder und gönnen sich eine Show, die den ganzen Theorie-Abstand und Dekonstruktions-Krempel überwindet. Doch die robuste Struktur von Brecht/Weills musikalischem und dialektischem Evergreen ist nachgiebig genug, um jede Attacke oder selbstgefällige Demontage abzuwehren. Verhältnismäßig. | AWI
KEHLMANNS KUMMER
MOLIÈRES »DER GEIZIGE« IN MOERS
Genau so stellt sich der Schriftsteller Daniel Kehlmann das deutsche Regietheater vor, genau so hat er es 2009 in seiner larmoyanten Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele beschrieben: Ein egomanischer Regisseur verkündet, dass im Theater keine Geschichten mehr erzählt werden könnten und folglich auch Molière nicht mehr gespielt werden könne. Stattdessen braucht es Dekadenz und Dekonstruktion, Peter Sloterdijks Essay über »Die Revolution der gebenden Hand«, ein paar Bruchstücke aus dem »Geizigen«, der Komödie über einen Vater, seine Kinder, über Ehevermittlung, verstecktes Gold, Alter und Jugend, Geiz, Lust und Liebe. Und – als Clou – eben Kehlmanns Rede.
Schon können die vier Schauspieler und ihr Regisseur, der natürlich auch noch die Rolle des Harpagon spielt, ihre Texte skandieren und heraus schreien, sich lasziv räkeln und hysterisch herumfuchteln, sich mit Unmengen Kunstblut besudeln und mit Essen herumschmieren. Zwischendurch werden noch Pizzen beim Lieferservice bestellt, dessen Bote mit echtem Geld bezahlt wird. Deswegen hatte der Regisseur ihn schließlich kommen lassen, um dem Publikum zu beweisen, dass die 5.000 Euro auf der Bühne keine Attrappe und kein Spielgeld sind.
Es gibt wirklich kein Regietheater-Mittel und Klischee, dass dem Regisseur Philipp Preuss an diesem Abend im Moerser Schloss zu abgegriffen oder zu banal wäre. Aber genau so muss es auch sein. Schließlich inszeniert er Molière als Lese- und Konzeptionsprobe. Und landet genau bei dem Paradoxon, das Kehlmann in seinen ansonsten absurd wertkonservativen und von gekränkter familiärer Eitelkeit erfüllten Ausführungen als das Wesen des Theaters aus macht: Alles ist Spiel und doch ganz wahr, alles geschieht nur in einem einzigen vergänglichen Moment und ist doch die Wiederholung von etwas immer Gleichen. Am Ende der knapp zweistündigen Exkursion durch die Abgründe des von Kehlmann so gefürchteten deutschen Theaters, die zugleich auch dessen Höhen sind und umgekehrt, rezitiert jeder der Schauspieler gerade diese Passage aus der berüchtigten Rede. Dabei passiert immer das Gleiche, ein anderer lässt einen Stift fallen und hebt ihn wieder auf, aber jedes Mal ein wenig anders. Die Mittel des »Regietheaters« – Preuss setzt den Begriff und die ihm bezeichnete Form schon durch die Probensituation in Anführungsstriche – werden transparent und gerade dadurch magisch. | SAW
RAUM OHNE MEER
BENJAMIN BRITTENS »BILLY BUDD« AN DER RHEINOPER
Mit »Billy Budd« setzt die Rheinoper den Britten-Zyklus erfolgreich fort. Regie führt erneut der 1972 in Gelsenkirchen geborene türkisch-deutsche Regisseur Immo Karaman, der bereits »Peter Grimes« inszeniert hat. Das nach Herman Melvilles Erzählung entstandene Werk variiert – ebenfalls wie »Grimes« – das Leitmotiv des Außenseiters. Die Handlung spielt auf einem englischen Kriegsschiff im Jahre 1797, zu Beginn der napoleonischen Kriege, und schildert drastisch eine dem militärischen Drill unterworfene Männergesellschaft. Machtkämpfe, Rangeleien, Willkür, brutale Strafaktionen und zermürbende Langeweile bestimmen die repressive Atmosphäre, deren Archaik und das Individuum verneinende Ordnungs-Mechanismen in Düsseldorf betont werden.
Der Titelheld Billy ist auffallend gutmütig, geradezu naiv und weckt mit seinem attraktiven Äußeren bei Offizieren und Mannschaft ambivalente Gefühle. Eine Intrige provoziert den mit dem Handicap des Stotterns belegten Billy zu einem tödlichen Faustschlag, auf den laut Kriegsrecht Tod durch Erhängen steht. Obwohl Kapitän Vere (Raymund Very) von der Unschuld des Jungen (den der Este Lauri Vasar anrührend und balsamisch tönend gibt) überzeugt ist, kann er ihn vor dem Urteil nicht schützen.
Karaman verlegt die Geschichte vom späten 18. Jahrhundert in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Nicola Reichert errichtet mobile hohe Wandelemente, die auf der Außenseite wie die metallene, vernietete Haut eines Kriegsschiffs wirken und rückwändig das Innere des Rumpfs andeuten. Diese Bühnen-Module sind ständig ruhelos in Bewegung, formieren sich zu klaustrophobisch engen, surrealen Räumen: einem Labyrinth von Kajüten, Gängen und Maschinenhallen. Das Meer – ein weiteres zentrales Motiv bei Britten – wird niemals sichtbar. Kein Naturalismus, keine Seefahrerromantik mildern das Kammerspiel. Fabian Posca, der auch die Choreografie der Raumelemente verantwortet, führt Chor und Solisten in raffiniert auf Brittens spröde Musik abgestimmte, abgezirkelte Bewegungen. Wobei Dirigent Peter Hirsch nichts in der Musik beschönigt, Brittens Klänge scharf zeichnet und das Ende schmerzhaft fast bis zum Stillstand verlangsamt. Eindringlich entwickelt die Aufführung ein System der Angst und Einsamkeit und findet subtile Bilder für die homoerotisch grundierte Dynamik des Geschehens. So behält der Intrigant Claggart (Sami Luttinen mit dunklem Grollen) das Halstuch bei sich, das er Billy gebieterisch abnahm, um es zu verbrennen, aber kann sich selbst von den Resten nicht trennen. Sein Hass auf den schönen Jüngling, den er lieber vernichten will, als ihm zu erliegen, deutet sich als Selbsthass – mit all den fatalen Folgen. | REM