TEXT UND INTERVIEW: ANDREAS WILINK
Auch Gerard Mortier sagt über Heiner Goebbels: »Wir wollen das Gleiche, kommen dabei aber aus total verschiedenen Richtungen«.Die Triennale als weit ausstrahlendes Landesfestival will ein intellektuelles und künstlerisches Surplus bieten – und sie hat Gegenreaktionen ausgelöst. Düsseldorf antwortet mit seiner Quadriennale, Köln mit der Musiktriennale. Gerard Mortier, der das Festival geistig und konkret verankernde Gründungsintendant, und Heiner Goebbels, aktuell der Vierte im Amt, trafen sich auf Einladung von K.WEST zum Gedankenaustausch.
K.WEST: Herr Mortier, Sie bringen für die Ruhrtriennale heute mehr Aufmerksamkeit und Verantwortungsgefühl auf als für die Salzburger Festspiele, deren Leitung Sie 1991 übernommen hatten. Ich nehme an, das liegt nicht daran, dass Bochum und Essen näher bei Ihrer Heimat Brüssel und Gent liegen.
MORTIER: Nein, es hat damit zu tun, dass wir hier etwas kreiert und viel über das, was grundsätzlich entstehen sollte, nachgedacht haben. Interessant war, dass man nicht gegen eine Tradition ankämpfen musste. Während der vergangenen 30 Jahre – in Produktionen gerechnet: 140 – habe ich mich auch immer mit Fragen des Raums beschäftigt, wie Peter Brook und Ariane Mnouchkine in den 70er Jahren. Für mich war es insofern elektrisierend, als ich ja aus dem traditionellen Opernbetrieb komme, mein Beruf war Rechtsanwalt, obgleich kunstbegeistert. Im Gegensatz zu Herrn Goebbels, der immer Avantgarde war. Ein weiterer Grund für mein bleibendes Engagement ist, dass ich im Ruhrgebiet ein Publikum entdeckte, offen für Neues. Das zwar Erwartungen hat, aber nicht kommt, um zu urteilen.
GOEBBELS: Wenn ich einhaken darf: Ich denke, das Publikum urteilt sehr wohl, auch sehr direkt – es ist ja sehr selbstbewusst und geerdet, aber es kommt neugierig und offen, und ohne Vorurteile.
MORTIER: Das wollte ich sagen. Und ich möchte ergänzen, für mich ist die Ruhrtriennale das aufregendste Festival im gesamten deutschsprachigen Raum. Wenn ich dagegen sehe, wie Salzburg und Bayreuth kämpfen…..
GOEBBELS: Es ist tatsächlich eines der spannendsten internationalen Festivals. Ich glaubte übrigens öfter beim Programm-Machen eine tolle Idee zu haben, bis ich nachgeschaut und entdeckt habe, dass es in der Triennale von Mortier schon zu sehen war, Olivier Messiaen zum Beispiel. Wir sind beide auf einer ähnlichen Suche nach starken Werken des 20. Jahrhunderts, die im Repertoire der Institutionen keinen Platz haben.
K.WEST: Herr Mortier, was war Ihr erster Gedanke, als Sie im Ruhrgebiet den Orten begegneten, die die neuen Festspielhäuser werden sollten?
MORTIER: Ich möchte da nichts romantisieren. Es war ein Labyrinth zu Anfang. Es gab noch nicht den roten Faden. Ich hatte immer Interesse für Leute, die andere Orte suchten, ich habe Mnouchkine genannt mit der Cartoucherie und Brook mit dem Bouffes Du Nord in Paris, auch Peter Stein am Halleschen Ufer. Das war typisch für meine Generation. Wir wollten raus aus den offiziellen Bauten.
K.WEST: Wir haben im Ohr, was Pierre Boulez als Sprengmeister des Opernbetriebs gesagt hat.
MORTIER: Ich hätte nie gedacht, dass ich später Intendant der Pariser Opéra sein würde. Also, das war das Grundgefühl. Wir mussten den Rahmen setzen, über die Orte entscheiden und das Programm, mussten soziologisch das Publikum untersuchen, ich bin auf Werbetour gegangen, und so weiter. Wir wollten anfangs mit den Theatern der Region zusammenarbeiten; dass das später nicht mehr passierte, fand ich sehr richtig, weil es da keine Konkurrenz geben sollte.
K.WEST: Die Selbstbefragung der Triennale wurde von Ihnen, Herr Mortier, in das Projekt implantiert. Gehört dazu auch die Frage nach Strukturen des Apparats, der unter veränderten Vorzeichen, Variablen, Vorlieben, Genre-Zuschreibungen immer wieder neu startet? Ein Wechsel alle drei Jahre kann auch heikel sein.
MORTIER: Bis jetzt ist er es noch nicht. Noch schenkt der Dreier-Rhythmus eine positive, kreative Kraft. Und zwingt jeden Intendanten, von Erfahrungen des Vorgängers zu lernen. Das einzige, was dabei zu kurz kommt, ist die Auftrag-Vergabe für Uraufführungen. Das braucht mehr Zeit.
GOEBBELS: Deswegen haben wir darauf eingewirkt, dass die nächsten Intendanten jeweils ein Jahr früher benannt werden, damit mehr Zeit für die Vorbereitung ist, auch mit Blick auf die Vergabe von Aufträgen. Ansonsten schätze ich den Triennale-Rhythmus. Man kann mehr riskieren, wenn man eine bestimmte Ästhetik – so verstehe ich den Auftrag – für drei Jahre vertritt. Dann folgt jemand, der andere Schwerpunkte setzt. Die darstellenden Künste sind sehr weit gestreckt. Auch das Publikum ist leichter bereit, die permanente Herausforderung und Neugierde für einen gewissen Zeitraum anzunehmen, als sich mit einem Intendanten zehn Jahre lang ins Benehmen zu setzen. Für mich persönlich ist das perfekt. Ich konnte auf einem fantastischen Fundament aufbauen. Abgesehen davon werde ich Ende 2014 froh sein, wieder zu komponieren. Und nie wieder Intendant zu sein. Obwohl ich es jetzt sehr gerne mache.
K.WEST: Herr Mortier, Sie müssten über die Einbindung der Bildenden Künste zufrieden sein – das war damals schon ein Wunsch, den Sie in gewissem Maß, etwa mit Bill Viola im Gasometer Oberhausen, erfüllten. Und Sie hatten die etwas ketzerische Idee, die Intendanz vielleicht mal mit einem Geisteswissenschaftler zu besetzen.
MORTIER: Aber Sie wissen ja, wo das hinführt, wenn Philosophen Libretti schreiben… Man muss schon eine bestimmte Praxis haben, und Heiner Goebbels hat diese echte Erfahrung –, sonst kriegt man ein Festival für Dummies. Die Bildende Kunst hatte ich von früh an lanciert. Schön, dass Goebbels das viel prononcierter wieder aufnimmt. Die Räume verbieten, dass man Dekorationen bildet. Uns ist das mit Ilya Kabakov im Salzlager gelungen. Und Goebbels mit Michal Rovners fantastischer Videoinstallation in der Mischanlage.
GOEBBELS: Sie sprechen einen wichtigen Punkt an: Die Räume eignen sich nicht, um als Dekor herzuhalten. Gerade das Sprechtheater hat noch Schwierigkeiten damit und nur in seltensten Fällen die Mittel, andere Kräfteverhältnisse auf die Bühne zu bringen als die zwischenmenschlichen. Man glaubt, alles in Dialogen und psychologischen Konflikten austragen zu können. Die Oper kann das manchmal, mit der Kraft der Musik, und die Bildenden Künstler können das. Aber dem Theater fehlt die Fähigkeit, sich mit anderen Kräften zu konfrontieren und diese zu akzeptieren. Möglicherweise, weil es befürchtet, dass dann der Schauspieler nicht mehr im Zentrum steht, sondern eher zum Medium wird. Diese anderen Kräfte sind aber gleichberechtigte, starke Partner in den Räumen der Triennale.
K.WEST: Die Räume sind dem Anschein nach offener, als häufig die Spielformen, die in ihnen stattfinden. Neigt man bei der Bildmacht der Industriekultur zu Ausweichmanövern?
MORTIER: Sobald Sie mit dem Musiktheater, mit bestehenden Werken und einem Orchester arbeiten, haben Sie das Problem. Es sei denn, sie lassen ein neues Stück schreiben und verteilen die Musiker im Raum. Andererseits haben wir schon alle möglichen Sitzordnungen und Konfigurationen durchexerziert. Die Leute haben längsseits gesessen, einander angeschaut, sich in Blöcken bewegt usw.
GOEBBELS: Die Räume sind sehr offen. Andererseits sind sie skeptischer gegenüber konventionellem Repräsentationstheater. Das sieht manchmal darin etwas lächerlich aus, weil die Räume nach einer anderen Wirklichkeit fragen. Deswegen mag dann der eine oder andere Regisseur geneigt sein, einen Guckkasten reinzubauen, um seine Darsteller zu schützen.
MORTIER: Das habe ich bei Willy Deckers »Tristan« so empfunden: eine sehr gute Aufführung, die aber fast in einem normalen Stadttheater hätte stattfinden können. Die Räume stellen selbst permanent Fragen, die uns zwingen, immer wieder Antworten zu geben.
GOEBBELS: Ein solches Festival mit seinen Subventionen hat unbedingt den Auftrag, sich zu unterscheiden – in einer Kulturlandschaft mit 15 Opern allein in NRW und das zu produzieren, was die anderen nicht können oder wollen.
K.WEST: Herr Mortier hat zum Ende seiner Intendanz kräftig ausgeteilt. Und eine gewisse ökonomische Elite im Ruhrgebiet als ignorant und moralisch herabgewirtschaftet qualifiziert.
MORTIER: Meine Aussage erfolgte aufgrund meiner Enttäuschung, in der Tat. Auch darüber, dass dieselben Leute sich für das Klavier Festival Ruhr engagierten und ihre Repräsentations-Ambition Genüge findet in einer Sonate von Beethoven.
K.WEST: Herr Goebbels, Sie können nicht konkurrieren mit der Sonate von Beethoven.
GOEBBELS: Das will ich auch nicht.
K.WEST: Teilen Sie dieses Verdikt, auch aus unbefriedigenden Erfahrungen mit dem Einwerben von Sponsoren?
GOEBBELS: Ich maße mir dieses Urteil noch nicht an. Ich gebe potentiellen Sponsoren gern noch zwei Jahren eine Chance. Ich habe viele Gespräche geführt, mehr als 50, auch mit meist sehr enttäuschenden Ergebnissen.
K.WEST: Herr Goebbels, Sie sprachen von Sog, also von intensiver Erfahrung. Wie wichtig sind emotionalisierende Schübe. Beim Festival 2012 fühlte ich mich emotional etwas ausgekühlt. Es gab Momente davon in Ihrem »Europeras« von Cage, aber gebrochen. Man wurde sofort, so war es gedacht, mit einer Ohrfeige aus dem Gefühl herausgeholt. Darf ich diese Emotion vermissen?
MORTIER (protestiert leise): Das ist etwas ganz Subjektives. Wir hatten gerade in Madrid Premiere von Verdis »Macbeth«, wo viele beklagten, dass da keine Harry-Potter-Hexen waren, die den Kessel umrührten. Diese Leute brauchen dieses bestimmte Bild, um ein Gefühl abzurufen.
GOEBBELS: Wir müssen etwas auseinanderhalten: Es gibt ein Theater, in dem Emotionalität auf der Bühne vorgemacht wird. Dem folgt man, begibt sich hinein oder verweigert sich. Und es gibt ein Theater, das Emotionalität als Möglichkeit produziert. Auf dieses mag jeder Zuschauer ganz anders reagieren. Mich interessieren Theaterabende mit einer solchen Offenheit und nicht solche, die definieren und mir vorschreiben wollen: Jetzt wird geweint oder gelacht. Heiner Müller hat schon gesagt: Das Drama findet nicht auf der Bühne statt, sondern im Zuschauerraum. Bei dieser Diskussion müssen wir vorsichtig sein, Emotionalität ist sehr individuell.
MORTIER: Berührt das nicht letztlich die Frage nach dem intellektuellen Anspruch? Die Ruhrtriennale mit ihrem grundlegend unkonventionellen Ursprung hat diesen Auftrag, zumal in unserer Zeit, wo in den Theatern dieser intellektuelle Anspruch abgesenkt wird. Und gerade hier, wo noch die Vorstellung von einer Arbeiter-Gegend umgeht. Dabei ist es viel komplexer.
GOEBBELS: Wir sind uns da künstlerisch einig. Ich möchte nur hinzufügen: Mich interessiert die Kunst, die zuallererst keine Voraussetzung braucht, die nicht einschüchtert und keine großen Einführungen benötigt. Ein gutes Kunstwerk muss zugänglich sein, auf die eine oder andere, auf naive oder komplexe Weise.
K.WEST: »Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein dringendster Auftrag«, heißt es bei Canetti. Ist die Triennale gewissermaßen selbst Ausdruck und Abbild des Transformationsprozesses, den das Ruhrgebiet am eigenen geschundenen Leib erfahren und vorgenommen hat?
GOEBBELS: Ich weiß nicht, ob man es in einer direkten Relation beschreiben soll. Man darf der Kunst keinen direkt politischen Auftrag zuweisen. Aber eine starke Kunsterfahrung – zu sehen, dass die Welt auch ganz anders sein könnte – setzt größere Offenheit frei; gerade in einer Region, die so im Umbruch begriffen ist, dabei ihre Selbstständigkeit behält und nicht auf ein Zentrum zuläuft – und ich finde die dezentrale Struktur hervorragend und wichtig. So gewonnene Offenheit ist in dem Verwandlungs-Zusammenhang sicherlich hilfreich.
K.WEST: Nimmt man mit der dezentralen Situation – es gibt ja keine Metropole Ruhr trotz gegenteiliger Behauptungen – den fehlenden Mittel- und Ruhepunkt für das Festival in Kauf? Vermissen Sie nicht die Tuchfühlung?
GOEBBELS und MORTIER: Nein.
MORTIER: Die Jahrhunderthalle Bochum in ihrer – fast dem Zufall geschuldeten – wunderbaren Architektur hat sich als Zentrum kristallisiert. Zu recht, wenn auch nicht als Ort der Repräsentation.
GOEBBELS: Herr Wilink, ich glaube, Sie verwechseln da etwas. Ein Stadttheater setzt auf Wiederkennung, Nähe, Familiarität und Vertrautheit. Das ist okay und hat mit wichtigen sozialen und kulturellen Bedürfnissen zu tun. Ob das die beste Voraussetzung für eine starke künstlerische Erfahrung ist, die mich erschüttert oder von der ich vorher nicht einmal wusste, dass es sie gibt, wage ich zu bezweifeln. Darin liegt ein Vorteil eines singulären Festivals. Wir brauchen kein solches Wohnzimmer. Auch kein Spiegelzelt.
K.WEST: Womit wir wieder beim Raumgefühl wären. Herr Mortier, Sie haben mit Blick auf die Industriekultur von einem »lieu de mémoire« gesprochen, in Abgrenzung zum Begriff Museum.
MORTIER: Ein Problem ist doch die Romantisierung der Industrie-räume. Denken Sie an die Beleuchtung im Landschaftspark Duisburg. Die Aufgabe der Triennale ist es, sich von diesem Gefühl und bürgerlichen Begriffen des Kunstbetriebs, wie sie im 19. Jahrhundert geprägt wurden, zu lösen und notwendig gegen sie anzukämpfen. Die Räume würden sonst nur rückblickend benutzt, während sie die Chance auf Zukunft bieten. Dieses Festival muss geradezu Avantgarde sein.
K.WEST: Herr Mortier, vor elf Jahren haben Sie mir gesagt, gäbe es 20 Prozent mehr Etat, würden Sie die Triennale noch einmal übernehmen.
MORTIER: Ich gebe das zu. Drei Jahre sind richtig, aber die Frage stellt sich, ob bestimmte Personen nicht gern zurückkämen – mit der gesammelten Erfahrung. Wenn ich auf all meine Aufgaben zurückschaue, ist dieses Festival das am meisten Faszinierende.