TEXT: GUIDO FISCHER
1998 hat Gavin Bryars es doch noch einmal getan. Plötzlich war alles wieder wie damals, wie in seinem ersten wilden Musikerleben. Für einige Konzerte in Köln und London kam es zur Reunion des Joseph Holbrooke Trios, das in den zwei Jahren seines Bestehens Geschichte im improvisierten Jazz geschrieben hatte. Nach über 30 Jahren standen Gitarrist Derek Bailey, Schlagzeuger Tony Oxley und Kontrabassist Gavin Bryars nun erstmals wieder gemeinsam auf einer Bühne. Bryars ging an seinem mannshohen Vier-Saiter neuerlich bis ans Limit und setzte wie in den 60er Jahren unkalkulierbare Reibungsenergien frei.
Wenngleich diese Konzerte sein bis heute letzter Trip in die Jazz-Vergangenheit bleiben sollten, so waren auch sie Ausdruck eines Musikers, der sich wie kaum ein Zweiter in Sekundenschnelle in eine völlig neue Künstlerpersönlichkeit verwandeln kann. Mal komponiert er Orchesterwerke, in denen soghafte Rhythmusschleifen und sanft dahinmäandernde Melodiewellen für raffinierte Wohlfühl-Sounds sorgen. Dann wieder beschwört er in seiner Kammermusik das Barockerbe etwa seines englischen Landsmannes Henry Purcell. Oder Bryars erforscht das Action-Playing auf Fluxus-Art. So setzte er etwa für seine surreale Collage »1, 2, 1-2-3-4« sechs Musikern Kopfhörer auf und ließ sie gleichzeitig Songs von den Beatles nachspielen.
Dass sich der inzwischen 70-Jährige zum musikalischen Chamäleon entwickelte, ist der Begegnung mit John Cage zu verdanken. In jenem Jahr 1966, als sich das Joseph Holbrooke Trio auflöste, war er von einem Cage-Abend in London derart fasziniert, dass er umgehend Kontakt zu dem amerikanischen Freigeist aufnahm. Bei einem mehrjährigen Aufenthalt in den USA lernte Bryrars dessen intellektuelle Generosität schätzen. »Cage gab dir die Erlaubnis, als Musiker du selbst zu sein«, sagt er. Damit besaß er Carte blanche, um sich wie selbstverständlich in musikalisch unterschiedlichsten Gewässern zu bewegen, ohne dabei auch auf die von ihm als »Stalinisten« bezeichneten Neue Musik-Ideologen Rücksicht zu nehmen.
Seitdem hat er Ballett-Stücke für die Merce Cunningham Company komponiert, auch Solo-Konzerte sowie vier Opern u.a. über Johannes Gutenberg und Marilyn Monroe. Nach Projekten mit Robert Wilson sowie dem Rock- und Pop-Sänger Elvis Costello tourte der Workaholic 2012 anlässlich des 100. Jahrestages des Untergangs der »Titanic« mit seinem allerersten Erfolgsstück durch Europa. Schon 1969 war sein elektro-akustisches Orchesterszenario »The Sinking of the Titanic« entstanden, für das Bryars einen Choral minimalistisch variierte, der laut eines Zeitzeugen knapp vor der Katastrophe von der Bordkapelle gespielt wurde. Mit diesem Stück sollte Bryars endgültig seine Wandlung vom experimentierfreudigen Jazz-Heißsporn zu einem Komponisten besiegeln, der fortan auch mit meditativen Slow-Motion-Gebilden arbeitet.
Beim Konzert der Bochumer Symphoniker, das die estnische Dirigentin Anu Tali während der Ruhrtriennale dirigiert, steht neben »The Sinking of the Titanic« noch Bryars zweiter Orchester-Hit »Jesus’ Blood Never Failed Me Yet« auf dem Programm. Grundlage für das minimalistische Orchesterstück von 1971 bildet die historische Aufnahme eines Londoner Stadtstreichers, der mit leicht brüchiger Stimme herzzerreißend diesen Hymnus singt. Bryars lässt die in einer Endlosschleife erklingende historische Aufnahme von Streichern zart umarmen und weitertragen. Selbst wem das kompositorisch dann doch zu wenig avanciert vorkommen mag – entziehen kann man sich seinem anrührenden Potenzial keinesfalls.
6. & 7. September 2013, Gebläsehalle / Landschaftspark-Nord, Duisburg. www.ruhrtriennale.de