Text Andreas Wilink
Vor 20 Jahren, 1995, gab der damalige Chefdramaturg des Deutschen Theaters Berlin, Michael Eberth, seinen Abschied von dem von Thomas Langhoff geleiteten Repräsentationstheater der seit einigen Jahren nicht mehr existierenden DDR bekannt. Er, der Westler, begründete seinen Schritt damit, dass das Haus eine »Oblomow’sche Einheit« sei. Was heißen sollte: Es verharre in Stillstand und Bewegungslosigkeit.
Abgesehen davon, dass die im Alexander Verlag erschienenen »Einheit – Berliner Theatertagebücher 91 bis 96« die Lektüre lohnen, weil sie von Nicht-Vereinbarkeit und von innerer wie äußerer Zerrissenheit und in Verdichtung etwas über Deutschland nach der Wende erzählen (und Eberth kann schreiben); abgesehen davon, dass Eberth eine Geschichte mit Nordrhein-Westfalen hat, weil er um das Jahr 2000 herum als Chefdramaturg auch das Düsseldorfer Schauspielhaus, während der Intendanz Anna Badora, befruchtete und ihm zu verdanken ist, dass Jürgen Gosch verpflichtet wurde, dem fulminante Inszenierungen gelangen wie der Epoche machende »Macbeth«; abgesehen davon also hat sein Begriff der »Oblomow’schen Einheit« etwas Elektrifizierendes. Erhellt er doch die Theatersituation, wie sie sich in Nordrhein-Westfalen darstellt.
Bewegungslosigkeit. Oder falsche Bewegung. Diese Einschätzung gewinnt gewissermaßen Dynamik durch die kursierenden, aus halboffiziellen Quellen sprudelnden Gerüchte über die bis zu unserem Redaktionsschluss noch unbestätigte Berufung einer Intendanz. Nicht irgendeiner, sondern in der Stadt, die einmal Deutschlands Theaterhauptstadt war, in die man überhaupt nur fuhr, um ins Theater zu gehen (angeblich auch zum Fußball).
Für das Bochumer Schauspielhaus gingen tollkühne Kulturdezernenten durchs Feuer, als sie Peter Zadek und Claus Peymann engagierten, oder es riskierten, einem 36-jährigen Leander Haußmann oder meinethalben dem 37-jährigen Matthias Hartmann mit Null-Leitungserfahrung erstmals ein Stadttheater anzuvertrauen. Zum unausgesprochenen Grundgesetz gehörte, dass Bochums Intendant ein Regisseur mit aufwieglerischem, schwärmerischem, geschärft künstlerischem Profil zu sein hatte. Dieser Anspruch hat sich mit Elmar Goerden und Anselm Weber, nun ja, nivelliert.
Er könnte sich ab 2017 komplett erledigen. Bochums Kulturdezernent Michael Townsend hat mit vielen, gerade auch Regisseuren der jüngeren Generation (u.a. Jette Steckel) gesprochen – und Abfuhren erhalten. Hat aber auch den Hinweis auf eine künstlerisch konsequente Option ignoriert: Die hieß Herbert Fritsch. Wie kann es sein, dass man offenbar für diese Position jemanden in das Theater tragen muss? Der stagnierenden Bau- und Finanzsituation des Hauses wegen? Aus Bequemlichkeit? Dank lockender verantwortungsfreier Regie-Engagements in den Theater-Hochburgen? Übrig blieben bis zuletzt eine »Kasseler Lösung« (Thomas Bockelmann / Markus Dietz) und, wenn man es denn ernst nehmen soll, immer noch und wieder Matthias Hartmann mit einem potenten Sponsor als «bulligem« Hintermann.
Ob es noch in letzter Sekunde anders und besser kommt? Sonst gilt: Last Exit Bochum. In Düsseldorf bereitet der lang gediente, versierte Praktiker und Intellektuelle Wilfried Schulz, der es eigentlich nicht noch mal wissen wollen müsste und der fast eine Art höheren Auftrag zu spüren scheint, seine Schauspielhaus-Generalintendanz vor (siehe auch das Interview mit Schulz: ab Seite 44). Aufbruch in Bochum und Düsseldorf? Für eine zaghafte Politik zählen Konsolidierung, Zuflucht zu bewährter Kompetenz, Krisenmanagement, souveräner Führung. Zu vermeiden sind Unsicherheits-Faktoren. Papas Theater, wenngleich unter veränderten Vorzeichen.
Doch sind Defizite, die die Häuser in Bochum, Düsseldorf und Köln schwächen, zu allererst politischen Fehlern geschuldet – Nachlässigkeit, Unterlassung, Fahrlässigkeit, Denkfaulheit. Und die Söhne? Die größte Leistung der Dortmunder Film- und Video-»Dogma«-tiker um Kay Voges besteht in der Eventisierung ihres Theaters, das seine gleichförmige Ästhetik hybrider Einfalt medienwirksam darzustellen weiß: Falsche Bewegung? Stefan Bachmann am Schauspiel Köln, der neben Bochum und vor Düsseldorf prädestinierten NRW-Theater-Metropole, scheint im dritten Jahr die Kurve langsam zu kriegen.
Bislang kam er über lokale Bedeutung, die er freundlich, korrekt, multikulturell und politisch engagiert herstellt, nicht hinaus. Bewegung im kleinen Radius. Von Aachen bis Bielefeld, von Bonn über Essen bis Münster herrschen solide Verhältnisse. Oder Relevanz verdünnisiert sich wie in Wuppertal (siehe oben: ein politischer Offenbarungseid). Bewegungs-Starre. Das Theater Oberhausen hat unter Peter Carp die größte Spannkraft mit Energieschüben durch Herbert Fritsch, Bram Jansen, Simon Stone und anderen. Ein bewegter Mann unter Bewegungs-Vermeidern und Bewegungs-Simulatoren. Wir sollten uns Oblomow nicht als zu glücklichen Menschen vorstellen. Und seine Zuschauer auch nicht.