TEXT REGINE MÜLLER
In seinem Essay »Über das Marionettentheater« behauptet Heinrich von Kleist, dass Anmut nur möglich sei im Zustand völliger Abwesenheit des Bewusstseins oder im unendlichen Bewusstsein, das erst nach einem langen Weg durch die Welt erreicht wird. Natürlich ist der grandiose Kleist-Text als Parabel zu lesen und meint mit »Anmut« nichts anderes als gelingende Kunst. »Unbewusst« könnte man auch mit »naiv« übersetzen; aufs Theater angewandt könnte man in einem – zugegeben – etwas kühnen Sprung behaupten: Theater mit Guckkasten und der säuberlichen Trennung von Bühne und Zuschauerraum sowie einer nachvollziehbaren Erzählung ist und war naives Theater. Dieser einstigen Selbstverständlichkeit haben sich neuere Musiktheater-Produktionen zunehmend verweigert. Sie gehen häufig raus aus dem Theater, scheren sich kaum um eine Erzählung, involvieren gern ihr Publikum. Ob das Musiktheater auf diesem (Um-)Weg der Bewusstwerdung am Ende doch vielleicht wieder beim Guckkasten und der virtuosen Liebesarie ankommen wird?
In Gelsenkirchen arbeitet man mit »ingolf«, gefördert vom NRW KULTURsekretariat aus dem Fonds Experimentelles Musiktheater, jedenfalls nach Kräften an der Bewusstwerdung, sprich, an der Entfernung von der tradierten Form der Oper. »Raus aus’m Theater, aus dieser bürgerlichen Muffbude!«, blafft Protagonist Ingolf übellaunig in dem Trailer zu dem Projekt, der auf der Webseite des Theaters im Revier abrufbar ist.
Ingolf ist gleichermaßen Kunstfigur und der ganz reale 72-jährige Ingolf Haedicke, ehemals Leiter der Phonothek des Musikwissenschaftlichen Instituts der Humboldt-Universität Berlin, ehemals auch Mitarbeiter des DDR-Rundfunks und passionierter Hobby-Bastler. Für das Konzept- und Regie-Team aus Daniel Kötter und Hannes Seidl ist er die Idealbesetzung für das Erforschen neuer Formen des Musiktheaters.
Seidl ist von Haus aus Komponist – aber »wir machen alles gemeinsam«, gibt er die Zuständigkeiten an und verweist auf diverse gemeinsame Musiktheater-Produktionen aus der Vergangenheit, die eher Richtung Performance gingen und sich durch das Zusammenspiel »vieler Medien« auszeichneten.
Auch beim progressiv sich entwickelnden »ingolf« ist den Machern wichtig, dass es keine Narration gibt und dass der Alltagsaspekt in das Experiment mit einfließt. »Der Gegensatz zwischen Oper und Alltag löst sich auf. Das Versprechen der Alltagsferne, das, was Oper normalerweise bedeutet, wird ins Gegenteil verkehrt.«
Bereits im vergangenen Mai wurde der erste Teil produziert. »ingolf lebt allein« zeigt im Film den Protagonisten vom Aufstehen bis zum Einschlafen, beim Basteln, in der Stammkneipe und immer wieder beim Skizzieren einer neuen Oper. Seine Wohnung wird zur Bühne, sein Alltag zur Handlung. Vier Sopranistinnen interagieren live mit dem Leinwandgeschehen auf der Bühne.
Im nächsten Schritt »ingolf arbeitet« geht nun die Realisierung der Ingolf’schen Reform-Oper neue Wege im Innern des Opernhauses und verkrümelt sich in den Malersaal. Wiederum werden Film und Live-Geschehen einander kreuzen. Von den Protagonisten des ersten Teils bleibt nur eine Sängerin übrig, die sich selbst begleitet und auf der Leinwand in Haedickes Wohnung auftaucht, seine Rituale nachahmend. Die Tischler des MiR bauen derweil ein Bühnenbild, das der Original-Wohnung gleicht. Nun wird die Tischlerei zur Bühne, die Techniker werden zu Opern-Figuren. Etwa eine Stunde wird das Experiment dauern, das vom Prinzip her an ein Hörspiel erinnert. Der dritte Teil folgt im Oktober – dann im Kleinen Haus. Zurück zum Guckkasten?
Aufführungen: 4. und 25. September 2016,
Foyer MIR, Gelsenkirchen.