TEXT SASCHA WESTPHAL
Als das Publikum den Saal betritt, wartet Wolfram Koch schon auf der Bühne. Steht wie versteinert auf einem goldenen Sockel, dem einzigen Element auf der leeren Spielfläche. Den rechten Arm streckt er leicht in die Höhe und gleicht so einem Denkmal, das die Welt und die Menschen grüßt, aber keinen Anteil mehr an ihrem Leben hat. Doch das ändert sich schlagartig, wenn das Licht erlischt. Nun hat der Mensch oben auf dem Sockel ein Gegenüber, erwacht aus seiner Erstarrung und sprüht mit einem Mal nur so vor Leben. Aus dem Denkmal wird eine ältere Frau: Gertrud Schleef, die aus einer Telefonzelle in Ost-Berlin ihren Sohn im Westen anruft. Später wird Koch in der Adaption von vier kurzen Erzählungen Einar Schleefs noch eine Reihe anderer Rollen und sich einen Kosmos erspielen.
In den wenigen Minuten, bevor das Spiel in Jakob Fedlers Schleef-Projekt »Der Tod des Lehrers« beginnt, und direkt danach offenbart sich ein Weltentwurf. »Was ist eigentlich der Mensch, wenn er nicht spielt?«, fragt sich der 1978 in Köln geborene, in Wuppertal aufgewachsene Theatermacher. Knapp zweieinhalb Jahre sind seit der Premiere des Schleef-Soloabends von Wolfram Koch bei den Ruhrfestspielen vergangen. Fedler schiebt die Antwort sogleich nach: »Dann ist er nichts.« Wir unterhalten uns an dem Oktobernachmittag, an dem sich das von mildem Licht durchflutete Kronleuchterfoyer des Wuppertaler Opernhauses von seiner glanzvollen Seite zeigt, zwar über Jean Genets Tragödie »Die Zofen«. Aber sein Diktum erfüllte auch schon der »Tod des Lehrers«.
Wer nicht spielt, wird zu Stein, oder wie Fedler mit Blick auf Genets von Verbrechen und von Prunk träumenden Schwestern formuliert: »Diese innere Leere, die einen erfasst, wenn man allein ist und kein Spiel stattfindet, ist noch viel schlimmer, als sich im Spiel aneinander abzuarbeiten oder erniedrigt zu werden.« Nur in ihren Ritualen und Rollenspielen finden die beiden Zofen, die weder voneinander noch von der »gnädigen Frau« loskommen, so etwas wie Freiheit und Glück. Darin gleichen Claire und Solange einem anderen sich auf Gedeih und Verderb ausgelieferten Paar: Ham und Clov in Becketts »Endspiel«.
Die Linie, die von Genet zu Beckett oder auch von Beckett zu Genet führt, fasziniert Jakob Fedler. Ist für ihn vielleicht sogar ein Schlüssel zu der barocken Fantasie, die Georg Hensel in seinem Schauspielführer als »Würgefingerübung der Perversion, der Mordlust und des Hasses« beschreibt. Wer mit Beckett auf die »Zofen« blickt, entdeckt neben der Perversion, der Mordlust und dem Hass, die im ewigen Ritus zelebriert werden und die Luft abklemmen, auch befreiende Komik. Nach der sucht Jakob Fedler, der von 2006 bis 2009 Regieassistent am Deutschen Theater Berlin war und dort vor allem mit Dimiter Gotscheff gearbeitet hat.
Wie Gotscheffs gefeierte Inszenierung von Aischylos’ »Die Perser«, die Tragik und Slapstick unvergleichlich im Gleichgewicht hielt, changieren auch Fedlers Arbeiten zwischen diesen Polen. In seiner 2012 in Wuppertal entstandenen Inszenierung von Anne Leppers »Käthe Hermann« und in »Der Tod des Lehrers« verwischen die Grenzen zwischen Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit. Das offene, dem Schauspieler Freiheiten lassende, aber nie beliebige Spiel, das Fedler anstrebt, ist für ihn die große Stärke des Theaters. »Authentizitätsversuche interessieren mich nicht«, bekennt er freimütig und schwärmt von einem Theater, wie es Genets Stück fordert: das »die Künstlichkeit der Sprache und Situationen bedient, statt sie zu überspielen«. Dann wird »das Spiel zum Mittel der Reflexion« – der Zuschauer kann sich in einem anderen Raum verlieren. Wenn er in seine Wirklichkeit zurückkehrt, sieht er diese neu.
»Die Zofen« von Jean Genet am Schauspiel Wuppertal; Premiere: 11. November sowie 12., 18. & 19. Nov., Theater am Engelsgarten.