Kaleb Erdmann ging 2002 in die 5. Klasse des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums, als dort 17 Menschen bei einem Amoklauf starben. Nun hat er ein eindrucksvolles Buch geschrieben, das sich tastend der Tat und ihren Folgen nähert.
Am 26. April 2002 erschütterte ein Amoklauf Deutschland. In nur 20 Minuten stürmte der 19-jährige Robert Steinhäuser seine ehemalige Schule – und tötete elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler, einen Polizeibeamten und schließlich sich selbst. Einer der damaligen Fünftklässler war Kaleb Erdmann, der zwei Jahrzehnte später nun versucht, das Unbegreifliche literarisch zu bearbeiten. In seinem Roman »Die Ausweichschule«. Darin beschäftigt Erdmanns Alter Ego auch die Frage, ob es »überhaupt einen guten Grund [gibt], eine Katastrophe in Kunst zu verwandeln«.
Erdmann ergründet den Wahrheitsgehalt der eigenen Erinnerung, hinterfragt seine Motive und zweifelt, ob er überhaupt der Richtige ist, über diese Geschehnisse zu schreiben. Damit ist er in guter Gesellschaft: Für den Deutschen Buchpreis waren 2025 gleich mehrere Bücher nominiert, deren Autor*innen damit ringen, zu erzählen. Dorothee Elmigers schließlich ausgezeichnetes Buch »Die Holländerinnen« hatte dieses Ringen stilistisch durchgehend in indirekter Rede umgesetzt. Auch Erdmanns »Ausweichschule« stand auf der Shortlist – und arbeitet mit einem Ich-Erzähler, Kaleb Erdmann selbst.
Begleiten beim Grübeln
»Vom Ende her sind alle Geschichten einfach zu erzählen«, so beschreibt sein Ich-Erzähler die vermeintlich eindeutige Perspektive 20 Jahre später. Rückblickend ließen sich Zusammenhänge eher erkennen, manche Interpretation scheint gar zwingend. Wie sein Alter Ego hat auch Erdmann mehrfach verworfen und neu angesetzt, bevor dieser nahbare, selbstironische Text entstand, der ebenso das eigene Schreiben thematisiert. Es ist eine gleichsam zurückhaltende wie beeindruckende Art, über ein so schweres Thema zu schreiben. Dabei geht es auch darum, weitere literarischen Verarbeitungen von Gewalt zu ergründen. Auch jenseits von True Crime entwickle sich dabei ein gewisser Sog, merkt der Erzähler selbstkritisch an. Die Referenzen auf Werke und Akteur*innen sind allerdings kein bloßes Namedropping. Im Gegenteil, Lesende begleiten Erdmanns Alter Ego beim Grübeln und Ergründen, warum etwa einem aktivistischen Vorgängerbuch zum Erfurter Amoklauf so viel Kritik entgegenschlug.
Für seinen Roman »wir sind pioniere« hatte der Düsseldorfer Autor den Debütpreis der lit.Cologne bekommen. Anders als im Debüt nutzt Erdmann in seinem neuen Roman nun Satzzeichen und Großschreibung, ohne aber Unmittelbarkeit einzubüßen. Sein Stil bleibt eindringlich, die Form mit ineinander verschränkten Ebenen experimentierfreudig. Treffende Metaphern und feiner Humor ziehen sich durch den Roman. Nach quälenden Gedanken etwa klebt dem Erzähler die Nacht »am Körper wie ein Rucksack«. Er war mal in Therapie – denn jeder habe ja Eltern. Mit dem Amoklauf aber habe das nichts zu tun und als er das Buchprojekt einem Verlagsvertreter vorstellt, wird er auch von außen mit der Frage konfrontiert, ob er dafür denn betroffen genug sei.
Erst nach und nach wird klar, wie der Amoklauf für ihn nachwirkt. Panikattacken überschatten Recherche und Schreibprozess. Erdmann macht begreiflich, dass die Trauerrituale in erster Linie für Erwachsene funktionierten. Die Kinder mussten sie im Gegensatz dazu erlernen, während sie gerade erst begriffen, was passiert war. Die Schulgemeinschaft war nach dem Amoklauf in ein anderes Gebäude gezogen, in die titelgebende »Ausweichschule«. Doch wer wich hier was aus? Ohne anzuklagen, mit viel Verständnis und klarem Blick für allseitige Überforderung, sucht Erdmanns Alter Ego nach einem Abschluss. Dass es den letztlich auch über zwei Jahrzehnte später nicht geben kann, verarbeitet er in diesem Buch eindrucksvoll zu einem Gesprächsangebot – das weit über Erfurt hinausreicht.
KALEB ERDMANNS BUCH »DIE AUSWEICHSCHULE« IST BEI PARK X ULLSEIN
ERSCHIENEN (304 SEITEN, 22 EURO).
ER LIEST AUS SEINEM ROMAN AM 4. DEZEMBER IM LITERATURHAUS DETMOLD.






