ZERO war in der Nachkriegszeit die einzige deutsche Avantgardebewegung von internationalem Rang – so urteilt der Kölner Galerist Heinz Holtmann in seinem Buch »Keine Angst vor Kunst«. Dass Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker, die drei Hauptvertreter dieser Kunstrichtung, die reine Lichterscheinung im Raum als Quelle der schöpferischen Kräfte proklamierten, war damals etwas völlig Neues. Ihre Lichträume und Objekte markieren den kunsthistorischen Beginn der Installationskunst, die man in den 1960er Jahren noch als »Environment« bezeichnete. Dabei wurden die drei Düsseldorfer durch den gleichen Zeitgeist inspiriert wie ihre niederländischen Kollegen der NUL-Gruppe oder die japanischen GUTAI-Künstler um Shozo Shimamoto, Saburo Murakami und Kazuo Shiraga. Der gemeinsame Nenner: Eine völlig neuartige Form von Materialsensibilität in Aktionen und Objekten. ZERO war tatsächlich die erste globalkünstlerische Bewegung, und zwar nicht als feste Gruppe, sondern als loser Verbund verschiedener Künstler und Gruppierungen.
Daher widmet das Düsseldorfer museum kunst palast seine ZERORetrospektive nicht nur dem eigentlichen Gruppenkern mit Mack, Piene und Uecker, sondern auch deren Austausch mit der damaligen internationalen Avantgarde zwischen Paris und Tokio. Insgesamt sind in dieser großangelegten Werkschau 250 Arbeiten von 48 Künstlern zu sehen, die Teilnehmerliste reicht von den Nouveaux Réalistes mit Arman, Yves Klein, Daniel Spoerri und Jean Tinguely über die GUTAI- Künstler bis zu Lucio Fontana und Hans Salentin.
Für Salentin lässt sich der »Nullpunkt der Kunst« auf den Tag genau festlegen. Am 2. Mai 1950 nämlich begegnete er als Student an der Düsseldorfer Kunstakademie zum allerersten Male den Kommilitonen Heinz Mack und Otto Piene. »Wir begannen zusammen, Picasso, Léger und die Abstrakten zu entdecken«, erzählte er später über den Beginn der Freundschaft, die dann in der »Gruppe 53« als Vorläufer von ZERO einen Zusammenhalt fand. Was damals von Paris aus an abstrakt-expressiven und informellen Tendenzen das Kunstgeschehen bestimmte, hatte überall zwischen New York und Düsseldorf eine Zeithöhe gewonnen. Vor allem die junge westdeutsche Künstlergeneration lehnte jeglichen bildnerischen Realismus nicht zuletzt deswegen ab, weil er durch die Nazi-»Kunst« als äußerst diskreditiert galt.
Doch schon bald setzte sich in der »Gruppe 53« ebenfalls eine recht große Skepsis gegenüber dem Tachismus durch, dessen Gestik die jungen Künstler als erschöpft und entleert zu empfinden begannen.1956 reiste die Gruppe gemeinsam nach Paris und lernte dort Yves Klein kennen, der in jenem Jahr gerade die Farbmischung für sein berühmtes »IKB – International Klein Blue« entwickelte. Ein Jahr später trat Klein mit seinen blauen Schwammreliefs und farbigen Körperabdrücken auf Leinwänden (»Anthropometrien«) an die Öffentlichkeit. Der Franzose wiederum hatte auch schon recht früh Kontakte zu den japanischen GUTAI-Künstlern geknüpft. Zwar gilt Kasimir Malewitsch mit seinem »Schwarzen Quadrat« als Urvater der monochromen Malerei, doch in den 50er Jahren war der russische Suprematismus von den Kunsthistorikern noch kaum erforscht. So dürfte denn vor allem Yves Klein, der sich bereits seit 1946 mit der Monochromie beschäftigte, einer der geistigen Wegbereiter von ZERO gewesen sein. Günther Uecker entwickelte weißmonochrome hölzerne »Lichtscheiben«, die er mit Nägeln in rhythmischer Anordnung bestückte; bei diesen Reliefs war vor allem der Licht-Schatten-Wechsel wichtig. Hans Salentin schuf um 1960 Reliefs mit ebenfalls monochrom-weißen, seriell aneinander gereihten Dachziegeln, später auch ähnlich formstrenge Objekte aus Zink oder Aluminium, grenzte sich jedoch ab 1964 vom ZERO-Formalismus strikt ab, um anschließend völlig andere Wege einzuschlagen.
Mit solchen puristisch-seriellen Materialarbeiten konnte man Ende der 50er Jahre im Galeriebetrieb noch nicht Fuß fassen. Daher organisierten Piene und Mack 1957/58 in ihren Düsseldorfer Ateliers die schon bald legendär werdenden »Abendausstellungen« mit eigenen Arbeiten und denen von Gästen, die gleichfalls eine Abkehr vom Expressiv-Tachistischen anstrebten. Die jetzige Retrospektive konzentriert sich vor allem auf jene Künstler, die an diesen Atelier- Events beteiligt waren sowie an den ZERO-Ausstellungen, die in der Folge bis 1965 auch an renommierten Orten stattfanden, so etwa 1959 im Hessenhuis Antwerpen, 1961 in der Düsseldorfer Galerie Schmela und schließlich, zusammen mit der Gruppe NUL, 1962 und 1965 im Amsterdamer Stedelijk Museum. Zu der zweiten Amsterdamer Werkschau hatte der NUL-Künstler Henk Peeters auch die GUTAI-Künstler eingeladen. Diese hatten in Japan 1956 ihre erste größere Ausstellung gezeigt und parallel zur Entstehung von Action Painting, Happening und Fluxus im Westen eine eigene Form von Aktionsmalerei entwickelt.
Shozo Shimamoto z.B. ließ Farbe aus zerborstenen Flaschen auf Leinwänden zerlaufen. Welch enge künstlerische Verflechtungen zwischen Europa und Asien bereits um 1960 existierten, wird erst jetzt im Rahmen dieser ZERO-Retrospektive genauer erforscht und dargestellt.
Für die damaligen Künstler bedeuteten die Experimente, die sie wagten, nicht nur einen Bruch mit der abstrakten Malerei, sondern mit dem Prinzip des Tafelbildes überhaupt. In der Zeitschrift »ZERO«, die Mack und Piene zwischen 1958 und 1961 herausgaben, wurde dieser Bruch in theoretischen Manifesten untermauert. Der Name »ZERO « wurde zum Programm: Man müsse bei Null beginnen, so hieß es, und zwar in einer »Zone des Schweigens und neuer Möglichkeiten« (Piene). »Null« steht mithin für die Befreiung von allem Vergangenen und für einen künstlerischen Neubeginn. Die zeitgenössische Kunstkritik bescheinigte der ZERO-Kunst denn auch zu Recht, sie sei mit ihrer Tendenz zum Materialbild und zum Objekt anti-malerisch ausgerichtet gewesen.
Das galt freilich auch für die anderen Avantgardeströmungen jener Jahre. Bei den Nouveaux Réalistes besannen sich Arman und Spoerri auf das dadaistische und surrealistische Prinzip, zufällig Gefundenes aus dem Alltag in die Kunst zu integrieren (»objet trouvé«). Arman bestückte Glasvitrinen mit alten Milchkannen aus dem Trödelladen, und Spoerri klebte ab 1960/61 nach einer Mahlzeit die abgegessenen Teller und benutzten Bestecke auf den originalen Tischplatten auf. Er bezeichnete diese Arbeiten als »Fallenbilder« (»Dem Zufall eine Falle stellen«). Lucio Fontana fügte monochromen Leinwänden Messerschnitte und Risse zu (»Concetti spazali«).
Die ersten ZERO-Projekte waren mithin in eine allgemeine, international verbreitete künstlerische Aufbruchstimmung eingebettet. Mack wandte sich lichtkinetischen Objekten zu. Er ließ gerillte Glasscheiben rotieren und konstruierte »Lichtstelen«, bei denen er sich die Effekte der physikalischen Lichtbrechung zu eigen machte. Auch Piene wollte eine »Entmaterialisierung durch Licht« sichtbar machen und setzte dazu ballonartige Formen aus dünnem Nylonmaterial ein. Diese Ballons füllte er mit farbigen Gasen und inszenierte sie im Raum als »Lichtballett«. Zur Sammlung des museum kunst palast gehört z.B. ein »ZERO-Lichtraum« von 1964 mit Beiträgen von Mack, Piene und Uecker. Er bildet in der Schau einen besonderen Schwerpunkt.
Während um 1960 in der Malerei immer noch das handwerkliche Ethos gepflegt wurde und an den Kunstakademien wie gehabt Porträt-, Sach- und Aktzeichnen nach alter Väter Sitte auf dem Stundenplan standen, begeisterten sich Mack und Piene für den Einsatz der modernen Technik und für eine opulente Ausweitung des materiellen und methodischen Fundus. Neben Wasser, Feuer, Licht und Rauch kamen ebenso industrielle Werkstoffe wie Nägel oder Aluminiumplatten zum Einsatz, Gläser, Spiegel und Leuchtkörper. Aus einer ähnlichen geistigen Haltung heraus entstanden zeitgleich die kinetischen Objekte von Jean Tinguley. Sie sind allerdings ästhetisch viel tüfteliger und verspielter konzipiert.
Die Retrospektive widmet nicht nur den zentralen Vertretern der Avantgarde wie Klein, Mack, Piene, Uecker, Fontana oder Shiraga eigene Räume, sondern fasst auch einzelne Werkgruppen mit »Spiegelung « oder »Vibration« zu speziellen Kapiteln innerhalb der Ausstellung zusammen, um herauszustellen, wie neuartig der Umgang mit der Materialvielfalt aus dem Konsumalltag damals war. Die ZERO- Künstler übten nämlich nicht nur Distanz zur Tafelmalerei, sondern ebenso zur edlen Aura von Bronzeplastik und Marmorskulptur.
Stattdessen propagierten sie eine »Einheit von Kunst und Leben« und begründeten damit zugleich ihr Faible für Alltagsmaterialien. Kurioserweise holte der Alltag diese kinetischen Lichtobjekte bald wieder ein, nämlich in Form von »Lichtorgeln«, wie sie uns seit mittlerweile 40 Jahren in Diskotheken vertraut sind. //
Zero – Internationale Künstler-Avantgarde der 50er/60er Jahre, museum kunst palast Düsseldorf, 9. April bis 9. Juli 2006