// Ein Thriller. Eine Liebesgeschichte. Eine Jonglage mit Wirklichkeiten. Eine Road Story. Eine Erzählung übers Erzählen – dies ungefähr ist dieses Buch. Darüber hinaus: Ein Berlin-Roman. Ein Spiel mit literarischen Klischees und Strategien. Eine Übung in naturwissenschaftlicher Metaphorik. Vor allem aber: ein Trinker-Roman. Heilige Trinker sind sie beide, der namenlose Erzähler und sein Freund Braun, letzterer ein begnadeter Mathematiker, ersterer ein gescheiterter Verleger. Kennen gelernt haben sich beide im Berliner Zoo, ein guter Ort für zwei knurrende Steppenwölfe, die auch zueinander zu kaum mehr als ein paar hingeblafften Bemerkungen über die je eigene Unterhintergehbarkeit der Zahlen und der Sprache in der Lage sind.
Aber jetzt ist Braun tot. Sagt jedenfalls das Radio. Und weil der Erzähler zwar ein zündelnder Misanthrop und bissiger Jetztzeitverächter, aber auch hoffnungslos philogyn ist; weil sein Autor genau weiß, wie eine ergebnissatte literarische Formel aussieht – darum verliebt sich unser Mann jetzt in die Witwe Brauns, Hélène, die, ihn zu suchen, von Amsterdam nach Berlin gekommen ist. Und reist ihr, als sie wieder fort ist, hinterher. Ein klassischer, tausendmal benutzter, hoffnungslos abgegriffener, tadellos funktionierender Beginn.
»Der Schatten der Tiere« ist Mathias Gatzas erster Roman. Auch er ist ein ehemaliger Verleger und langjähriger Lektor (Eichborn, Berlin Verlag), ob auch er Alkoholiker ist oder war, weiß man nicht. Gatza, Jahrgang 1963, hat spät debütiert, offenbar hat er jahrelang alles, was mit Literatur zu tun hat, in sich aufgesogen: das Nachdenken übers Schreiben und das Schreiben selbst. Und beides dann wieder in einem Schwall von sich gegeben. Heraus geplatscht ist ein beinah perfekter Roman. Der hemmungslos erzählt und hingebungsvoll identifikatorisch beschreibt. Und im nächsten Absatz das Erzählte und Beschriebene süffisant bricht, in Frage stellt, auflöst. Nie bloßstellt. Ein Stil, der dem Saufen ähnelt, das im Rausch alles umarmt und im Kater und Selbstekel alles verachtet. Bitte das nächste Glas!
Von Anfang an herrscht im Buch eine Atmosphäre von Unstimmigkeit und schütterer Jetzigkeit, die Zusammenhänge werden immer undurchsichtiger, Braun selbst immer durchsichtiger. Ist Braun nur ein Wortspiel? Trotzdem rattert der Zug glaubhaft Richtung Amsterdam. Trotzdem begegnen dem Erzähler auf der Reise fremde Schöne, die er anfassen kann. »Ich hasse Rätselspiele, und ich hasse Krimis«, raunzt der Erzähler. Doch sein Autor hat ihm genau dies geschrieben und lässt ihn die passende Figur dazu sein: einen raubeinig-hilflosen Versager, den die Frauen lieben und der ein Geheimnis lösen will. Der zu sehr witzigen Bemerkungen fähig ist. Und der in jeder Hinsicht eins aufs Maul kriegt.
»Die Landschaft ist, das muss ich schon sagen, umwerfend, das Leben aber eine Enttäuschung«, heißt es anderer Stelle. Da bleibt dem Erzähler nur zu reisen. Von Berlin über Königslutter nach Amsterdam nach Oslo nach Kautokeino, wo Braun starb. Starb er? Reisen auch durch andere Bücher und vergangene Zeiten und andere Identitäten – einmal erleben wir eine Szene aus dem Blickwinkel einer Möwe. Und: Es schneit. Ungeheuer viel Schnee fällt wie die Worte fallen, glitzernde funkelnde Kristalle, jeder anders, immer neue Silhouetten bildend. Was darunter? //
Mathias Gatza: Der Schatten der Tiere; Rowohlt Verlag, 384 S., € 19,90