TEXT: ULRICH DEUTER
»Wir sind nur Gast auf Erden…« Das Pilgern ist wieder beliebt geworden, am Anfang des 21. Jahrhunderts schleppen sich auf dem Jakobsweg abermals müde Glieder über die Schwelle von Kirchen, die im 11. Jahrhundert errichtet wurden und nun immer noch wenigstens den Geist erquicken.
Zu einer Wiedergeburt des Gedankens, dass das ganze menschliche Dasein eine Wanderung sei und jede Reise somit ein Symbol, hat diese Pilgermode allerdings nicht geführt; Geschäfts- und Urlaubsreisen sind nach wie vor Teil eines zweck- und zielorientierten Verhaltens: von A nach B, um zu.
Das mag einmal anders gewesen sein. Die »ewige Heimat«, welcher in jenem Kirchenlied der Erdengast zustrebt, wird auch für den weiland noch etwas gläubigeren Chauffeur am Steuer eines per Christopherus-Plakette geschützten VW Käfers auf der noch leitplankenlosen Autobahn der 50er, 60er Jahre zwar eher Italien gewesen sein als das Himmelreich. Dennoch wird er aus dem Gefühl innerer Notwendigkeit heraus hier und da an einer Autobahnkirche angehalten haben, um den heißen Motor zu kühlen, aber seiner Seele freien Lauf zu lassen.
Die Autobahnkirche ist ein deutsches Phänomen, der Meditationsraum direkt neben der geschwindigkeitsunbeschränkten Rennbahn fügt sich ganz selbstverständlich in eine Kultur, die mit Leichtigkeit Höchstformen der Effizienz mit Sentimentalität und Transzendenz-Träumerei zu balancieren weiß. Etwa 40 Autobahnkirchen gibt es hierzulande, die erste entstand 1958 an der A8, die jüngste steht an der A45 in Wilnsdorf in der Nähe von Siegen. Sie wurde am 26. Mai 2013 eingeweiht.
Der Autohof Wilnsdorf ist ein monströses Areal. Auf einem Hügel in einer der vielen Kurven der »Sauerlandlinie« gelegen, versammelt er neben den grellen Nutzarchitekturen einer Tankstelle, eines Burger King, eines »Gameland« und eines »24 h Check-in«-Hotels einen unüberschaubar riesigen Parkplatz für LKWs. An dessen äußerstem Rand, hart an der Hügelböschung und im Schatten eines gigantischen Reklameturms, zuckt ein strahlend weißes Gebilde. Zwei pfeilspitze Finger stechen in den Himmel, zwei an Hummerscheren erinnernde Gegenstücke greifen waagerecht nach den Besuchern, die zwischen ihnen auf einer Rampe ins Innere gelangen.
Dort ist von der Origami-ähnlichen, kristallinen Außenstruktur nichts mehr zu spüren. Die Konstruktionsidee des Kreuzrippengewölbes – oder des Schiffsbaus – im Hinterkopf, haben die Frankfurter Architekten Schneider + Schumacher Dutzende dicke Pressspanplatten-Rippen ineinandergesteckt und so eine hellbraune, bergende Höhle geschaffen, eine nichts tragende, etwa fünf Meter hohe Zierkuppel, die dennoch luftig und lichtvoll wirkt, da die Holzspanten nicht geschlossen sind. Licht fällt durch Fenster in den beiden Turmspitzen ein. Nachts ist der Bau angestrahlt.
Autobahnkirchen sind meist überkonfessionelle Stätten, auch hier lässt lediglich ein Holzkreuz in so etwas wie einem Ambo Christlichkeit erkennen; davor laden zwei Dutzend schlichte Hocker zum Sinnieren ein. Es kommen monatlich um die 5.000 Besucher in die rund um die Uhr geöffnete Kirche, das Gästebuch beweist internationale Provenienz. Der originelle Entwurf der beiden Architekten (die u.a. auch die Erweiterung des Städel Museums bauten) bekam 2013 den DAM Preis für Architektur.
Die Autobahnkapelle Hamm ist die Stein resp. Holz gewordene Redensart von der Autobahnkirche als der Tankstelle der Seele. 1947 waren rechts und links der Autobahn Dortmund-Hannover zwei einander gegenüberliegende Benzin-Stationen errichtet worden, heimatstilähnlich mit hohem Satteldach und einer durch sechs dicke Pfeiler markierten Vorfahrt, zwischen denen die Zapfsäulen residierten. Im Zuge des Ausbaus der A2 und der Verlegung der Tankstelle wurde eine der beiden historischen Zwillingsbauten unter Denkmalschutz gestellt, zur Kapelle umgewidmet und 2009 eingeweiht. In den geschlossenen Teil des Gebäudes wurde ein ca. sechs Meter hoher Holzkubus eingestellt, der die äußere Baugestalt ignoriert, so dass weder das Dach noch die Fenster einen Bezug zum Innenraum besitzen. Davor steht eine ähnlich hohe Corten-Stahlskulptur von Michael Düchting.
Die Autobahnkapelle Roxel an der A1 Münster-Osnabrück ist ein Nurdachgebäude von 1969.
Die Autobahnkapelle Geismühle befindet sich an der A57 Neuss-Krefeld; der von Hein Stappmann entworfene und 1981 eingeweihte Bau versteht sich als Meditationsraum.
Die Katholische Autobahnkapelle Nievenheim an der A57 ist zwischen Tankstelle und Rasthaus leicht zu übersehen. Der sechseckige Backsteinbau ist ein Entwurf des Architekten Carl Hecking, Mitarbeiter des Kirchenbaumeisters Dominikus Böhm. Die dem Erzengel Raphael geweihte Kapelle wurde 1976 eingeweiht.
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