Das symbolische Ende der Rockmusik kam im Jahr 1999 über Deutschland. Es kam mit einem Lied, das eine Synthesizerfanfare aus dem schrecklichen Rocksong »The Final Countdown« der schwedischen Hair-Band Europe aus dem Jahre 1986 zitierte. »Let There Be Rock« forderte die Hamburger Gruppe Tocotronic im von ihr bevorzugten Modus traurig-verzweifelter Störrigkeit und unterstrich die ihr nur allzu bewusste Haltlosigkeit dieser Forderung mit dem nostalgisch anmutenden Refrain-Nachsatz »Verflixt noch mal«. »Let There Be Rock« also setzte implizit bereits voraus, dass es »den Rock« nicht mehr gab, und gemeint war weniger die tradierte musikalische Form als vielmehr die damit verbundene außermusikalische Zuschreibung: Rock als ernst gemeinte Rebellion war tot. Was blieb, war die dazu passende Pose.
Doch von der erhofften sich zumindest Tocotronic keinen Lebensentwurf mehr, keine subversive Strategie, keine Fundamentalopposition gegen die viel beschworenen Verhältnisse, ja nicht mal mehr ein paar kleine Distinktionsgewinne im ewigen Spiel der Popkultur um die Herrschaft über die richtigen, die richtig coolen Zeichen und Codes: Die Restexistenz des Rock als Pose war das Eingeständnis, dass er als Rebellion verloren hatte. Demnach war »Let There Be Rock« also gar nicht so sehr eine Beschwörung. Es war ein Nachruf. Alles, was danach noch folgen konnte, war angewandtes Zombietum.
Bernd Lindner, Kultursoziologe und -historiker und als Projektleiter inhaltlich verantwortlich für die Konzeption der Ausstellung »Rock! – Jugend und Musik in Deutschland«, die zunächst im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig gezeigt wurde und nun im Haus der Geschichte Bonn zu sehen ist, sieht das etwas anders. Seinen »Rock & Revolte: Ein Rhythmus verändert die Welt« betitelten Katalogbeitrag zur Ausstellung, die die historische Entwicklung des Rock und seiner gesellschaftlichen Wirkung in West- wie Ostdeutschland seit den 50er Jahren dokumentieren will, schließt Lindner mit einigen Bemerkungen zum »Soundtrack« des Mauerfalls 1989, der aus popästhetischer Sicht leider tatsächlich von den Scorpions (»Wind Of Change «) und Marius Müller-Westernhagen (»Freiheit«) bestritten wurde: »Als Roger Waters im Sommer 1990 die ›Wall‹ noch einmal einstürzen ließ, wiederbelebte er dafür das gleichnamige Konzeptalbum (von Pink Floyd, d.A.) von 1979, das ursprünglich Generationskonflikte britischer Jugendlicher beschrieb. Warum funktionierte diese symbolische Geste auch elf Jahre später und in einem gänzlich anderen Zusammenhang? Weil in den Rhythmus dieser Musik der Geist der Revolte eingeschrieben ist.« Falsch, falsch und nochmal falsch. Aber: typisch für die Rock-Rezeption, nicht nur in Deutschland. Zunächst einmal ist einem bloßen Rhythmus rein gar nichts eingeschrieben als ein Takt, ein metronomisches Tempo, eine musikalische Grundkonstruktion. Wir sprechen hier also von einer reinen Form, der erst in einem zweiten Schritt Bedeutung zugewiesen wird, die sich nicht gleichsam natürlich ergibt, sondern verhandelt, erstritten, diskursiv entwickelt wird: Wir sprechen von populärer Kultur und ihrer Rezeption. Um die Behauptung, Rock sei per se rebellisch, zu widerlegen, braucht es nur den simplen Verweis auf ein pophistorisch später aufgetauchtes Phänomen, den Techno. Der ist, wenn man so will, Rhythmus in Reinform, eine zeichenreduzierte Abstraktion von Rock im Viervierteltakt, und dafür wird oder wurde er geliebt und gehasst: für seine simple, treibende, ekstatische, funktionale Temporauschhaftigkeit. Aber interessanterweise wurde Techno auch in der Phase seiner größten Massenwirksamkeit von Beginn bis Mitte der 90er Jahre nie mit Rebellion in Zusammenhang gebracht. Er wurde stattdessen viel eher mit Attributen der Anpassung, der Selbstzurichtung, des Einfügens des modernen Menschen in das postindustrielle Zeitalter versehen: Unnütze, weil nicht mehr wegen ihrer Leibeskraft gebrauchte, dafür aber in Fitnessstudios gestählte Körper synchronisieren sich affirmativ mit dem rasenden Takt der neuen Zeit. Aber war diese letztlich auch wieder nur symbolische Zuweisung logische Folge der Form von Techno? Nein, es war eine Interpretation, und die passte einfach ganz nett ins Bild, das man sich von der Zeit machte. Insofern ist auch die Behauptung, »Let There Be Rock« habe den Rock in Deutschland beendet oder stehe symbolisch für die Erkenntnis von seinem Ende, eine ebensolche bloße Interpretation, die nett ins Bild passt: Erschöpfter als Ende der 90er Jahre klang Rock selten. Es brauchte jedoch nur zwei Jahre und das Debütalbum der »Strokes«, und man sprach rund um den Globus und auch in Deutschland bald nur noch vom Rock-Revival. Dass aber ein Hauch von Travestie über all den The-Bands wehte, die in der Nachfolge der Strokes auftauchten, wurde auch selten verschwiegen.
Vielleicht gilt es also, ein paar wesentliche Feststellungen zu treffen. Musik kann, muss aber nicht ein Ausdrucksmittel für Befindlichkeiten sein. Und tatsächlich ist es so, dass die Beschäftigung mit Musik, vor allem mit ihren jeweiligen zeitgenössischen Ausprägungen, bei jungen Menschen allgemein intensiver ist als bei älteren. Insofern ist es nicht nur legitim, sondern sogar sinnvoll, diese Musik nach ihrem weniger faktischen als vielmehr metaphorischen Gehalt dahingehend zu durchsuchen, was sie womöglich an Rückschlüssen über Befindlichkeiten zum Beispiel von Jugendlichen zulässt. Doch auch die allfällige Klage älterer, scheinbar in ihrer Jugend vorbildlich rebellisch gewesener Menschen, die Jugend von heute sei ja so schrecklich angepasst, lässt drei Rückschlüsse ganz sicher nicht zu: Erstens ist Jugend nicht per se eine rebellische Phase des Menschenlebens, auch wenn wir geneigt sind, an diesen Mythos zu glauben – die Popkultur selbst hat ihn zum Kern ihres Mythenbestandes gemacht.
Zweitens gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen so etwas wie der künstlerischen oder auktorialen Intention (so sie denn bewusst gesetzt wird) und deren Rezeption. Ob etwas rebellisch ist oder wirkt, entscheidet sich immer erst im Auge des Betrachters respektive im Ohr des Zuhörenden, aber zwischen dieser ästhetischen Rezeption und den lebensweltlichen Handlungen des Rezipienten gibt es keine direkte Kausalkette: Keine Barrikade brannte 1968 wegen »Street Fighting Man« von den Rolling Stones. Aber sie brannte damit gleich noch ein bisschen schöner. Moderne Revolten haben Soundtracks, das stimmt wohl, aber nicht der Soundtrack bestimmt die Revolte, es ist immer noch umgekehrt: Wir erkennen die Revolte u.a. an ihren Ausdrucksformen wieder, dazu zählt die Musik ebenso wie die Haarschnitte oder die Klamotten derjenigen, die als Revoltierende identifiziert wurden. Lange Haare selbst sind zu bestimmten historischen Zeiten zunächst nicht Zweck und Ziel, sondern Form eines Anderssein-Wollens gewesen, bis sie irgendwann ubiquitär und also schlicht Mode wurden.
Drittens schließlich lässt sich seriös nicht behaupten, die Jugendkulturen seit den 50er Jahren seien so umfassend in ihrer unmittelbaren wie bleibenden Wirkung auf die Gesellschaft gewesen, wie ihr historisches Bild dies suggeriert. Stattdessen stellen soziologische Untersuchungen immer wieder fest, dass die Zugehörigkeit zu Jugendkulturen wie den Halbstarken, Hippies, Punkern, Poppern, Goths und so weiter wesentlich geringer ausfällt, als man es durch deren öffentliche Wirkung annehmen könnte. Und das gilt auch dann noch, wenn diese Jugendkulturen längst historisch geworden sind und durch nostalgische Verklärung meist positiver besetzt sind als zu ihrer eigentlichen Zeit: Die bei weitem größte Gruppe von Jugendlichen hat sich zu allen Zeiten zu den so genannten Normalos gezählt, die weder Jugendkulturen noch deren Idealen nahestehen. Nur eine verschwindend kleine Minderheit wollte »Teil einer Jugendbewegung« (ein anderer schöner Song von Tocotronic) sein oder gewesen sein, und sei sie noch so prägend erschienen für ihre Zeit wie etwa die Halbstarken für die 50er Jahre. Deren bevorzugte Ausdrucksform, der Rock’n’Roll seiner Zeit, gilt dennoch bis heute wenn nicht als Grund, so doch als Treibmittel ihrer so genannten Revolte gegen die vermeintlich vermuffte Nachkriegszeit.
Fälschlicherweise: Während wir gerade eine dramatische Umdeutung der 50er Jahre erleben und sie plötzlich in der öffentlichen oder zumindest veröffentlichten Meinung als gar nicht mehr so vermufft, sondern vielmehr als mythische Gründerzeit, als Hort von Sicherheit, Ordnung, Klarheit wider die ach so Angst machende Gegenwart gilt, erleben wir zugleich die Historischwerdung der Revolte als popkulturelles Phänomen. Insofern passt die Bonner Ausstellung wiederum absolut in unsere Zeit. Rock ist als Rebellionsgeste tot. Na endlich. Mal sehen, wann er wiederaufersteht. //
Haus der Geschichte, bis 15. Oktober 2006, Tel: 0228/91 65-0; www.hdg.de