Niemals geht er so ganz? Am Ende des Konzerts werden sie nicht nur applaudieren und jubeln, sie werden wissen, es ist wohl wirklich das letzte Mal, werden sich von ihren Plätzen erheben, um einen der letzten Granden des französischen Chansons zu ehren, einen kleinen Mann mit Schaufelhänden und gewinnendem Verliererblick, 1,61 m groß und längst »bigger than life«, Charles Aznavour. Wer so lange auf der Bühne stand wie der 81-Jährige, mehr als 60 Jahre, kann so leicht nicht gehen. 2001/2002 absolvierte er seine weltweite Abschiedstournee, ging dann 2004, zu seinem 80. Geburtstag, auf weitere Konzertreisen, verfasste seine (zweite) Autobiografie, schreibt regelmäßig neue Lieder und nimmt Platten auf. Und nach der jüngsten, »Insolitement Votre«, die im letzten Herbst erschien, ging er noch einmal auf Tournee. Im Februar nun wird er (nach Auftritten in Hamburg, Wien und Frankfurt) in der Essener Philharmonie das letzte Konzert seiner Abschieds-Tour geben.
Vielleicht ist die Stimme ein wenig verletzlicher geworden, aber von seiner Bühnen- Ausstrahlung hat er nichts eingebüßt, dieser bittersüße Romantiker, sanft ironische Clown und Charmeur, dieser Magier der Melancholie. Er kann eine solche Traurigkeit in seine Lieder legen, dass man es gar nicht sagen kann, nein, wirklich nicht, nur singen. Dann wieder verschmilzt er seine Nostalgie mit einer geradezu amerikanischen Lässigkeit, einem relaxten Swing in jeder Phrase und einem leicht amüsierten Erzählton. Da stört es nicht mal, wenn seine Band ihn zuweilen mit pompösem 80er-Jahre Musicalsound zuschmalzt. Oder seine Tochter Katia, die nicht wirklich zur Sängerin geboren ist, mit ihm zum Duett antritt. Alles vergessen, wenn er in intimer Zwiesprache mit dem Klavier, dem Publikum, mit einem Blick und ein paar Gesten Drei-Minuten-Dramen erzählt, sich jaz- zig den Musette-Rhythmen hingibt, in Tangoschritte hineintänzelt oder sich federnd um sich selbst dreht, einen Blues andeutend mit einer Geliebten aus vergangenen Zeiten, mit der er sich leise fortstiehlt aus der Welt.
Und wenn Aznavour dann »Yesterday when I was young« anstimmt oder »La Bohème«, wenn er lächelnd Wehmut schürt über die Vergänglichkeit der Jugend, der Liebe, der Jahre, oder wenn er einem im Interview sagt: »Die verrinnende Lebenszeit hat mich immer beschäftigt, von Anfang an, vor allem das Jungsein kam mir immer so vor, als sei es nur ein schrecklich kurzer Moment«, dann ahnt man, dass seine nicht enden wollende Rastlosigkeit antritt gegen die dahinrasende Zeit. »Weil ich alles am Leben liebe, wirklich alles, nur eine einzige Sache hasse ich am Leben: sterben zu müssen«, sagt er dann und lacht. Und so hat er seine Biografie zu einem Triumph gemacht über die Zumutung der Kürze des Lebens. Eine so furchtbar kleine Spanne, dass man vielleicht einfach »bigger than life« werden muss.
Überlebensgroß – ist eine 60-jährige Weltkarriere als Sänger mit Tausenden von Konzerten auf allen Kontinenten, mit unzähligen Welthits wie »Hier encore«, »She«, »Mes emmerdes« oder »Tu te laisses aller« (Du lässt dich gehn); mit über hundert Alben und mehr als 100 Millionen verkaufter Platten. Als Autor und Komponist schrieb Aznavour mehr als 800 Chansons, auch für andere, etwa für Edith Piaf, Gilbert Bécaud, Juliette Gréco, Maurice Chevalier, Eddie Constantin. Als Schauspieler wirkte er in rund 60 Filmen mit, in Truffauts »Schießen Sie auf den Pianisten « und Chabrols »Die Phantome des Hutmachers «; er drehte mit René Clair, Cocteau oder Schlöndorff. In der »Blechtrommel« ist er der jüdische Spielzeughändler, der Oskar Matzerath die Kindertrommel schenkt. Seine allerersten Auftritte hatte Aznavour als Knirps: geboren am 24. Mai 1924 in Paris als Varenagh Aznavourian, Sohn armenischer Flüchtlinge. Die Eltern (der Vater war Operettensänger, die Mutter Schauspielerin) führten ein bescheidenes Restaurant im Quartier Latin, wo der Knabe den Gästen armenische Gedichte und Lieder vortrug. Mit neun Jahren stand er bereits auf der Theaterbühne und sang in den Bistros des Viertels. Als er mit 14 eine Platte von Maurice Chevalier hörte, »wusste ich, dass ich nur eins wollte: Sänger sein«. Leicht wurde es nicht. Während des Zweiten Weltkriegs schlug er sich durch als Zeitungsverkäufer, Schwarzmarkthändler, Schauspiellehrer. Tingelte durch Bars, radelte zu Auftritten in die besetzte Normandie. 1950 engagiert ihn die Piaf, als Pianisten, Sekretär, Chauffeur und fördert zusammen mit Charles Trenet seine Bühnenambitionen. Die Presse überzieht den schmächtigen Sänger mit Häme: zu hässlich, zu klein, keine Stimme. Lieber solle er Stummfilm-Komiker werden. Aber die Leute lieben ihn. 1954 hat er erste Auftritte im Pariser Alhambra und im Olympia. 1957 dann gelingt der große Durchbruch, mit seinem ersten Hit »Sur ma vie«.
Die Schauspielerin Françoise Rosay, die von der Stummfilmzeit bis kurz vor ihrem Tod 1974 auf der Leinwand präsent blieb, schrieb: »Kluge Menschen verstehen es, den Abschied von der Jugend auf mehrere Jahrzehnte zu verteilen«. Und manche verstehen es, daraus eine Kunst zu machen, Lieder und eine Legende.
Aznavour, der Rastlose, kommt also noch einmal zu uns. Seinen Grabspruch hat er allerdings auch schon längst entworfen: »Hier liegt der älteste Mensch dieses Friedhofs«. Liegt, wohlgemerkt. Nicht: ruht. //
The best of Aznavour, Hamburg 17.2., Wien 18.2., Frankfurt/Main 19.2, Essen, Philharmonie, 20.2. 2006