TEXT: VOLKER K. BELGHAUS
Seit er aus Afghanistan zurückgekehrt ist, ist Harald Heinemanns Lebensmittelpunkt ein vollautomatischer, monströser Kippsessel im ehemaligen Zonenrandgebiet. Stabsunteroffizier Harald Heinemann, genannt Toni (nach dem Torwart Toni Schumacher) hat in Kunduz gedient, der »deutschen Burg«, die einem »befestigten Campingplatz in Südportugal« ähnelt. Nur dass einem in Portugal der große »Bäng« beim Splittereinschlag keine große nässende Wunde in den Oberschenkel reißt und einen zum Pflegefall macht. Heinemanns zweites Leben bewegt sich zwischen Sessel, der »Prisma«-Programmbeilage, den vorbeibrausenden Lastern zur städtischen Müllhalde und den Besuchen seines äthiopischen Pflegers Kanell, der die Verbände wechselt und Schmerzmittel verabreicht. Doch dann ist auf einmal Helen da, die ihn liebt, seine Wunde versorgen kann und einer Libelle, die sich ins Wohnzimmer verirrt hat, den gebrochenen Flügel schient. Zudem erfüllt sie ihm seine sexu-ellen Phantasien, verschwindet aber genau so plötzlich, wie sie aufgetaucht ist.
»Deutscher Sohn« ist bei Blumenbar erschienen, und deswegen sollte man auch keine Betroffenheitsliteratur über das Schicksal deutscher Söhne am Hindukusch erwarten. Es ist ein wilder und provokanter Text, den Niermann und Wallasch abgeliefert haben, der in deutschen Mythen wildert und sich in gegenwärtigen Geilheiten verliert. So gehört Heinemanns Familie den Deutsch-Religiösen an, einer merkwürdigen nationalistischen Sekte, die germanischen Symbolen wie der Weltesche huldigt. Die sexuellen Eskapaden des Kriegsheimkehrers streifen das Werk von Charlotte Roche (Avocadokerne!). Irgendwann ist man sich dann nicht mehr ganz sicher, ob die Geschehnisse real, oder ob sie das Ergebnis der ungesunden Mischung aus Adelskronen-Bier und Schmerzmitteln sind, die der Soldat Heinemann konsumiert.
Ingo Niermann und Alexander Wallasch, »Deutscher Sohn«, Roman, Blumenbar, Berlin, 2010, 320 Seiten, 19,90 Euro