»Ach, der Günter.« Das keiner niemand so sagen wie sie. Was da alles mitschwingt in dem weichen, Wärme spendenden Ausruf: Sehnsucht, Erinnerung, Verständnis, Innigkeit, Herzlichkeit. Der Günter, das ist Krämer, und mit dem verbindet Traute Hoess die längste gemeinsame Wegstrecke am Theater, von Bremen nach Köln, von 1984 bis heute – bei sechsjähriger Denkpause. Aber sie könnte auch sagen: Ach, der Werner (Schroeter), der Mitko (Gotscheff), der Jürgen (Kruse), der Leander (Haußmann), der Heiner Müller.
Als sie Müller kennen lernte in Frankfurt – »das war ein sinnlicher Mann, diese Energie, dieses Denken« –, hatte der Dramatiker sie und Volker Spengler schon in seinem von Peer Raben in Bremen inszenierten »Quartett « gesehen. Allerdings nur auf Video – wegen irgendeiner DDR-Reisebeschränkung.
Als sie sich trafen, verwechselte Müller Traute Hoess zunächst mit ihrer Freundin Eva, einer Boutiquebesitzerin: Blondine bevorzugt. Die Sache wurde richtiggestellt. Der Kosename blieb. »Eva«, eine paradiesische Erfindung für Traute Hoess: Ursprung des Weiblichen, aber mit Gemüt, Mutterwitz und kämpferischer Geste. Venus, Aszendent Mars, das würde zu Traute Hoess passen.
Die Absolventin der Falckenberg-Schule in München, die an den Kammerspielen begann und kurz nach Bremen wechselte, kehrte bald an die Isar zurück. Es war die Zeit, als man autonom, antiautoritär und selbsterfahren war. Die Tochter eines Polizisten stand nun auf der anderen Seite. Hieß »die rote Zora« – laut Werner Schroeter.
Deutschland im Nach-Mai der Pariser Revolte und im Vor-Herbst der Bleiernen Zeit. Sozialismus, »Rote Rüben« und Psychospiele à la Fassbinder. Gruppendynamik, Workshops und WG-Wonnen. Traute Hoess mengte mit, »flippte hin und her«, war gegen das bürgerliche Theater und wollte doch auch Gretchen spielen. Rückblickend sagt sei über die wilden Jahre, »das war alles ein bisschen auch eine erotische Geschichte«. »Frauen-Power« hieß eine Revue aus diesen Anfängen, entwickelt im Kollektiv, dem auch Rio Reiser und Konstantin Wecker angehörten. Zeitweise gehörte sie zur »Rainbow Family« der Marianne Sägebrecht.
Doch vom Freiheitspathos muss man sich auch mal emanzipieren. Über die Stadttheater Wuppertal und Basel kam sie erneut nach Bremen, traf dort auf Krämer und ging mit ihm 1990 nach Köln.
Als sie jüngst die Arkadina in Tschechows »Möwe« bei Krämers Kölner Ausstand spielte, zelebrierte sie diese Schauspielerinnen-Figur als Diva, Donna, Duse, die in jeder Lüge ein Gran Wahrheit unterbringt, jede Emotion taktisch nutzt. Mit einem Ausdruck tiefsten Verständnisses. Da hat sich jemand nichts zu verzeihen. Hat kapiert, was in letzter Konsequenz für die Bühnen-Existenz aufgegeben wurde. Das Tschechow hinzu gedichtete »hätte ich nur« und »wäre ich doch« der Arkadina ist bei ihr kein Jammern, sondern Einsicht in selbstverschuldete Mündigkeit. »In den Vordergrund geschoben« habe sich indes die Geschichte von Mutter und Sohn. Autobiografie ist’s immer. Traute Hoess’ Sohn, 26 und in Zürich lebend, sei von ihr, der »Wanderin«, auch vernachlässigt worden: »Als Schauspielerin musste ich ihn öfter im Stich lassen.« Ein Sohn, den »ich nicht in der Requisite abgeben konnte, der nicht gern in die Kantine ging«, der einen festen Ort brauchte. Für ihn sei es »eine Katastrophe« gewesen, von Bremen nach Köln zu müssen. Nach Berlin wollte er dann nicht mit, als sie ans Berliner Ensemble ging, bei Palitzsch spielte und bei Müller die Dullfeet im »Arturo Ui» neben Martin Wuttke.So liegt ein Schatten auf der Seele der Arkadina Hoess.
Das erste, was Traute Hoess auf der Bühne sah, war Kasperl- und Bauerntheater, im 800-Seelen-Dorf Pähl. Ihre Vorsprechrollen studierte sie mit dem evangelischen Pfarrer in der Bibliothek ein und fuhr hinterm Rücken der Eltern nach München: »Im Faltenrock, ich wusste nicht mal, was schwul war.« Sie wurde angenommen, auch wegen ihres komischen Talents: »Ich muss wohl beim Vorsprechen immer bayerischer geworden sein. Aber in meinen Augen haben sie alles andere auch gesehen.«
Volkstümlich ist sie, auch ohne auf dem Brettl zu stehen, nicht mondän, eher schon eine Spur Demi Monde, wovor sie nicht bange ist. Sie wäre die bessere Nelly Kröger in Breloers Mann-Verfilmung gewesen. Musste sich aber begnügen mit der kleineren Rolle: der ersten statt der zweiten Ehefrau Heinrichs, mit Mimi Mann. Tief im Westen hat die Süddeutsche Heimatgefühl. In Bochum zu leben, tut ihr gut, weil es so »reell« ist und im Haus auch einer wohnt, der »bei Opel malocht«. »Theater kann oft auch nur sich selbst meinen.« Sie kann so leicht nichts erschüttern.
Scheint eine wilhelminisch robuste Standfestigkeit zu besitzen, würde man der 1950 geborenen Oberbayerin mit dieser Aussage nicht die Wurzeln abgraben. Wer sich dazu das Wort plump imaginiert, liegt total falsch.
Sie hat in ihrer formidablen Präsenz eine mädchenhaft graziöse Leichtigkeit, Sinnlichkeit und Zartheit. Sie kreiere ihre Rollen nicht intellektuell, sondern »schmecke sie ab« schrieb Theater heute 1997. Und so funktioniert sie – unabhängig von ihrer eigenen Wirklichkeit – auch als eine Art realistischer Gegenkraft zu anderen, konträren Schauspielerinnen ihrer Regisseure. Das süffige, Oskar-Maria-Grafhafte ihrer Erscheinung steht im Gegensatz etwa zur verkniffenen Dame Kobold Ingrid Andree bei Krämer, zur Untergeherin Magdalena Montezuma bei Schroeter, zu der als Todes-Artistin geschminkten Almut Zilcher bei Gotscheff.
Ihren Regisseuren gegenüber ist sie loyal – und gelegentlich besser als diese. Sie nennt es »präzise« und unterspielt: »Ich sehe mich da eher wie ein Medium.« Auch ein Schicksal, schmeichelhaft für sie, aber bestimmt nicht immer befriedigend. Und so darf sie laut denken: »Ich habe überhaupt für mich und das Theater das Gefühl, dass ich noch brüte. Ich fühl mich immer noch nicht wirklich ausgereizt.«
Da kommt noch was. Etwas wie »die Suche nach einem einfachen So-Sein«. Aber das sei wohl nicht klar ausgedrückt, zweifelt sie. Doch, man versteht schon. Auch das Wort Authentizität wäre nicht besser. Deshalb würde sie mit Marthaler und Castorf gern mal arbeiten.
Manches sei auch halt »haarscharf an ihr vorbeigegangen«. Zu wenig Brecht habe sie gespielt – den Brecht für drei Groschen, Volksdichter und Valentin-Erben. Immerhin die Jenny und ihren Solo-Liederabend »Das ist es, was uns so zusammentreibt«. Nur einmal sei sie zu Horváth gekommen. Für die Penthesilea sei es zu spät. Heiner Müller ist tot. Und Fassbinder, den sie schon aus der Münchner Frühzeit kannte, starb viel zu früh, als er gerade drei Projekte plante, in denen sie dabei sein sollte. Der »verrückte Hund«, der so »bizarr« war und eine »Aura« hatte, habe beim »Berlin Alexanderplatz«-Dreh bloß zu ihr gesagt: »Und du, du lachst nur, gell.« Erfahrungen hat Traute Hoess satt – mit starken, mit schwierigen Regisseuren, mit Quer-, Toll- und Kindsköpfen. Der »treueste« ist Krämer, der weiß, »dass ich eher so barocke Gefühle habe, der mich verknappt, schärft und auf den Punkt bringt, weil er es hasst, Gefühle auszumähren«. So sieht sie es.
Man kann es anders sehen. Noch in einem Schauderstück wie Müllers »Anatomie Titus Fall of Rome« hatte sie als Goten-Königin Tamora der Rachlust Tänzerin zu sein, die wie eine Rita Hayworth die Männer zu Fall bringt. Er stellt ihre Vitalität zur Schau. Mag aber Krämer noch so sehr sein Konzept-Theater vertreten, Hoess führt ihm Blut zu: Vor fünf Jahren brachte sie als Marie im »Woyzeck « Bewegung ins statische Spiel, Farbe in die Monotonie des Daseins. Pink und Gelb, in Leidenschaft und Leidenskraft, schmiegte, wiegte, animierte, scharwenzelte und schlenkerte.Sie bekam von Krämer ein Schaukelpferd auf die Bühne gestellt und einen Song von Rio Reiser dazu. Auch eine Form der Liebeserklärung.
Es ist viel zu wenig, in Traute Hoess die Salon-Heroine zu sehen, eine zur Madame umdekorierte Liebesgöttin, wie aus der Makart- Malerei des 19. Jahrhunderts. Eine Labiche- Figur. Wie sie eine solche auch mehrmals darstellte: Etwa bei Schroeter im »Prix Martin« ließ sie es gackern und girren; bei Karin Beier gab sie sich in der »Affäre Rue de Lourcine« als aufgeplusterte Schreckschraube her, während die Inszenierung den bourgeoisen Wahnwitz in die Zone der Zote abdrängte.
Eigentlich Majestätsbeleidigung. Da tat Hoess der Wechsel ans Schauspielhaus Bochum gut, als das Dreigestirn Haußmann, Gotscheff, Kruse die Regie übernahm. Seither lebt sie auch dort mit dem Kollegen und Ehemann Waldemar Kobus, den sie bei der ersten Arbeit an der Grönemeyer-Kö, in Wedekinds »Musik«, kennen lernte. Allein, »ihre« Regisseure Gotscheff, Kruse, Schroeter ließen sie in Bochum bald links liegen; sie arbeitete hauptsächlich mit Haußmann.
1999 präsidierte sie zwischen einstürzenden Altbauten im »Borkman« und geriet samtigpelzig mit Margit Carstensen und Vater Edzard Haußmann in eine Eiszeit zu dritt, bei der sich Ibsens Drama heftig ins Melodram vorschob. »Dann wurde ich 50 und stand auf Spitze«, im Wiener Ronacher, als Fee Klingklang in »Peter Pan« des ewigen Jungen Leander, den sie sehr verteidigt und vor Kritik in Schutz nimmt. Da hört der Spaß auf.
Auch Gotscheff holte sie aus der Bürgerstube raus. Schwarzgallig und faul bis in die Zähne war Traute Hoess sein Weltverächter Jacques in Shakespeares »Wie es Euch gefällt«, der sich zwischen schwarzen Vorhängen und roten Stoff-Fetzen die Formel »Vorsicht Theater! « zu eigen machte. Die Spielansage »Alles los« meinte da in der Heiner-Müller-Übersetzung: »Aus und Vorbei«. Eine Erkenntnis, die der Fatalist Hoess im bunten Gesicht trug, ahnend, dass die Ordnung des Dämons Eros das Chaos ist.
Karin Henkel sieht ebenfalls eine andere Traute Hoess. Bei der jungen Regisseurin dürfe sie »auslaufen an den Rändern«. Einer von Eugene O’Neills »Nebelmenschen«: In »Eines langen Tages Reise in die Nacht« war sie 1996 die Mutter Mary – Zentrum des Abends. Eigentlich eine strotzende Person, schien sie beinahe körperlos, im Sanften voller Unruhe, im Vertrauensseligen misstrauisch. Eine Exzentrikerin der Normalität. »Just a perfect day« erklang am Ende der Aufführung – Leonard Cohens Song stimmte den Klagegesang darüber an, dass niemand dafür kann, was das Leben mit ihm getan hat. Dieselbe Grundmelodie hören wir nun wieder, fast eine zweite amerikanische Nationalhymne.
Zum vierten Mal spielt Traute Hoess nun bei Karin Henkel. Zum dritten Mal ist sie die Martha in Albees »Virginia Woolf«, die sie bereits bei Kruse – in Freiburg (»da haben wir Radau gemacht«) und dann »gereifter« in Bochum – gab. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dieser Stellungskrieg kroch.
Jetzt steht die Ehe-Front im Düsseldorfer Schauspielhaus. Eine ideale Rolle, weil Hoess hier, im akademischen Urwald, das Klischee bricht, das Saftige auswringt, enthemmt, wütend, verzweifelt. Souverän, spottlustig, wollüstig.
1999 in Bochum war sie als Martha – neben dem Schmerzensmann Jürgen Rohe – hundert Prozent Naturfaser, gab der Sprache Fleisch, ohne sie zu verfetten, war derb wie ein bretonisches Fischweib, rockte wie Tina Turner, rapte, kläffte, aber domestizierte sich klug und kontrolliert beim Griff in die Vollen. Eigentlich wollte sie die Martha »ohne den Jürgen nicht mehr machen«. Der ihr drei Jahrzehnte lang nahe Kollege starb 2002.
Sie hat ihm, dem »alten Cowboy«, einen Abschiedsbrief geschrieben. Man kann den Gruß lesen, im Schlussbuch des Schauspielhauses Bochum der Hartmann-Intendanz. Wer hat Angst vor Virginia Woolf? Beide, Martha und George. »In der Rolle ist immer noch was drin«, sagt sie. Play it again, Traute. //