Interview: Melanie Suchy
// 1984 gründeten sechs Absolventen des »Drama«-Studiengangs an der University of Essex in Sheffield die Gruppe Forced Entertainment. Seit den 90er Jahren zählt sie zu den maßgeblichen Theaterneuerern in Großbritannien und Europa. So unterschiedlich ihre Arbeiten zur komplexen heutigen Lebenswelt sind – von intim wirkender, karg inszenierter Lesung, überbordenden Bühnenshows bis zu Langzeit-Performances –, so schwer lassen sich die Kreationen von Forced Entertainment auf einen begrifflichen Nenner bringen. Ob postdramatisch, experimentell, Performance oder Live Art: In einer Selbstbeschreibung nennen sie es die Suche nach etwas, das irgendwie weniger als Theater und mehr als Theater ist. Auf PACT Zollverein in Essen, wo Forced Entertainment 2007 mit vier Produktionen gastierte, bereiten Robin Arthur, Richard Lowdon, Claire Marshall, Cathy Naden und Terry O‘Connor mit dem künstlerischen Leiter Tim Etchells in einer zweiwöchigen Residenz ihr neues Stück »Spectacular« vor, das auf der Zeche am 17. Mai uraufgeführt wird. Während der Probenphase in Sheffield hatte Mastermind Tim Etchells Zeit, die Arbeitsweise der Gruppe zu erklären. //
K.WEST: Wie kommt es, dass Sie Ihre neue Produktion »Spectacular« in Essen bei PACT Zollverein uraufführen?
ETCHELLS: Eine Premiere planen wir gern für ein Haus, zu dem wir eine gute Beziehung haben, und wo uns Zeit gegeben wird, auf der Bühne zu proben. Vorher arbeiten wir normalerweise im Probenraum, wo ich sehr nah dran sitze am Geschehen. Das Stück auf eine Theaterbühne zu bringen, ist merkwürdigerweise immer ein Schock. Alles ändert sich; alles musst du irgendwie anpassen.
K.WEST: »Spectacular« kommt in Aufsätzen von Ihnen als negativer Begriff vor und bezeichnet etwas, das sie mit Ihrem Theater gerade nicht bedienen wollen.
ETCHELLS: Den Titel hielten wir für einen guten Kontrapunkt oder Referenzpunkt zu einigen Dingen, an denen wir arbeiteten. Natürlich gibt es auch den Zwang, irgendwann einen Namen zu haben. Man setzt ein bestimmtes Wort oder ein Konzept in die Welt. Du lässt dich mental darauf ein und zielst dann in eine Richtung, die viel chaotischer ist – oder eigentlich viel intimer. Dann führen die Dinge einen Dialog mit dem Titel, mit dem Wort, das um das Stück herum aufgestellt wird. Der Titel meint bestimmt nicht, dass wir auf Rollschuhen auf die Bühne kommen oder so etwas, jedenfalls noch nicht.
K.WEST: Können Sie etwas zum Inhalt oder zum Rahmen sagen?
ETCHELLS: Es hat viel von einer Show in den Ruinen einer Show. Die Idee eines spektakulären Entertainments, einer Gameshow oder einer Form von Cabaret – aber all das ist bereits gründlich schief gegangen. Irgendwie ermöglicht uns das Sachen-schiefgehen-lassen oder das absichtliche Durcheinander, eine Art von Poesie hineinzubringen, einen anderen Zugang zu Zuschauern oder zum Performance-Machen.
K.WEST: Sie erwähnten mal, dass ihre Stücke möglicherweise beim Publikum ein bestimmtes kulturelles Wissen voraussetzten. Heißt das hier, man müsste diese Arten von Entertainment kennen?
ETCHELLS: Dafür reicht es, mal fünf Minuten ferngesehen zu haben. Das ist extrem allgegenwärtig als Kultur. Uns interessiert dieses Wissen, das wir und andere Leute haben, ohne uns dessen bewusst zu sein. Es sickert irgendwie in einen rein.
K.WEST: Sie sagten, es sei Ihnen langweilig geworden, mit Video oder mit Videokameras auf der Bühne zu arbeiten.
ETCHELLS: Ich schließe aber nicht aus, dass wir es wieder tun werden. Tatsächlich haben wir im letzten großen Stück, »The World in Pictures«, einen kleinen Monitor und einen Laptop benutzt. Zum ersten Mal schaffte es bei uns ein Computer auf die Bühne. Das hat lange gedauert, nämlich so lange, bis der Laptop ein derart langweiliges und alltägliches Objekt geworden ist, dass so ein alter Macintosh sich einfach unter all den anderen Kram mischen konnte.
K.WEST: Was Sie über das neue Stück sagen, klingt sehr nach Forced Entertainment.
ETCHELLS: Es gibt Anliegen und es gibt Sprachen, die man mit sich herumträgt. Sachen verschwinden, oder sie bleiben wegen einer fortdauernden Faszination. Manchmal frage ich mich auch: Warum bin ich wieder an diesem einen Punkt? Das liegt wohl daran, dass es in solchen Dingen eine Art Riss gibt, den man finden, untersuchen, und in den man tiefer eindringen will. Wir haben uns immer eingesetzt für die Idee eines Gesamtwerks, an dem wir zusammen eine solch lange Zeit arbeiten. Es geht nicht um: »Hey, wow, diese Show ist total anders!« Für mich – hm, könnte es doch so sein? Ich schließe es nicht aus … Eigentlich glaube ich, die Realität für jeden Künstler, der über 23 Jahre – als Gruppe oder nicht – tätig ist, sieht so aus: zurück im Kreis zu gehen.
K.WEST: Bemerken Sie den Einfluss von Forced Entertainment auf andere Gruppen?
ETCHELLS: Sicherlich haben unsere Arbeit, Ästhetik und Strategien Einfluss. Das ist in allerlei Richtungen hinausgesickert. Manchmal ist es super zu sehen, wie Leute ein bisschen von dem nehmen, an dem du arbeitest, und sie geben ihm einen interessanten Dreh. Aber manchmal sehe ich deprimierende Sachen, wenn jemand etwas geliehen hat und unfähig war, Nennenswertes hinzuzufügen. Performance ist wie eine orale Kultur, das macht sie interessant. Irgendwie atmet man ein, was andere Leute tun, und dann atmet man es aus in der eigenen Arbeit, im positiven Sinne. Wenn ich Richard Maxwells oder Jérôme Bels Arbeiten sehe, muss ich das nicht kopieren, aber es verändert mein Verständnis von dem, was überhaupt möglich ist.
K.WEST: Im Buch »Certain Fragments« erzählen Sie von dem Zaubertrick, den jemand an Ihnen ausprobierte: Eine Aluminiumfolie hinterließ auf der Hand eine Narbe, wobei die Hitze aus reiner Einbildung entstand. Kann das eine Metapher sein für gutes Theater?
ETCHELLS: Ich denke schon. Ereignisse in unserem Leben, die mit unseren Beziehungen oder unserer Familie zu tun haben, hinterlassen Eindrücke bei uns. Die Begegnung mit Kunst, mit Performance, Literatur oder Film, auch wenn es Kreationen sind, Phantome, kann das auch. Sie können einen zeichnen. Sie bleiben eine erstaunlich lange Zeit bei dir. Das ist für mich Teil der fortgesetzten Faszination am Kunst-Machen. Du sprichst mit Menschen, du verbindest dich mit ihren Leben. Es kann sein, dass die Leute einfach ein Ticket kaufen, sich hinsetzen, etwas anschauen. Aber es kann auch passieren, dass lange, nachdem die Performance beendet ist, ihr Geist irgendwie immer noch bei dir ist.
K.WEST: Sie schrieben einmal, dass bei Ihrer Arbeit Bedeutung zufällig passiere. Ist es nicht auch die Art und Weise, wie Ihre Arbeit auf die Zuschauer wirkt?
ETCHELLS: Wir machen die Arbeit in dem Wissen, dass die Beziehung zum Zuschauer unvorhersehbar ist und nicht wirklich lenkbar. Oft will Theater ja etwas bedeuten, will einem etwas sagen. Meine Reaktion ist dann immer: Ich will nichts gesagt bekommen, ich will etwas finden.
K.WEST: Wie verhalten sich Ihre theoretischen Einlassungen zur Praxis?
ETCHELLS: Falls ich etwas von Performance verstehe, was ich manchmal bezweifle, dann basiert das auf der unglaublich langen Zeit, die ich im Probenraum verbringe. Jede Theorie basiert darauf, dass ich stundenlang zuschaue, wie Menschen in einem Raum lächerliche Kostüme tragen und lustige oder traurige Sachen tun. All unsere Stücke entstehen aus dem Blödsinnmachen.
Vom 15. bis 17. Mai 2008 bei PACT Zollverein, www.pact-zollverein.de