Wenn die Eltern mit dem Auto in Urlaub fuhren, spielte meistens das Radio. Dann liefen im Kopf des Kindes Stephanie auf der Rückbank die ersten eigenen Filme ab. Sie phantasierte sich Geschichten zur Musik zusammen.
Oder die Ballettelevin – schon als Vierjährige ging sie in die dem Wiesbadener Staatstheater angeschlossene Schule – dachte sich eine Choreografie aus, damals noch mit akademisch-klassischem Vokabular.
Stephanie Thierschs Welt war von klein auf die der Bilder. Früh schulte sie ihren Kamerablick. Als Achtjährige studierte sie eine Zirkusvorstellung mit den Nachbarskindern ein – mit Musik, Kostümen und selbst gebastelten Programmheften. Zehn Jahre später filmte sie mit der Super-8-Kamera des Vaters ihren Bruder. Und noch mal zehn Jahre später verfolgte sie hinter einer 16-Millimeter- Kamera den Ausnahmetänzer Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola durch Paris. Mit dem Sasha Waltz-Protagonisten drehte sie den Film »Le Coeur volé« nach dem »Poème Cinématographique« (1934) von Philippe Soupault: ihre Diplomarbeit an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Mit dem Traumszenario an den Brücken und Ufern der Seine, worin ein Mann im Zwischenreich von Realität und Virtualität vielen Frauen begegnet, wurden die Bilder – Thierschs Obsession – zur Profession.
»Ein sicheres Gefühl für Atmosphäre, Bildgestaltung, Rhythmus und Dynamik, das den Betrachter vom ersten Moment an gefangen nimmt« bescheinigte ihr die Kölner SK Stiftung Kultur und verlieh Stephanie Thiersch den Deutschen Videotanzpreis 2000/2001, dotiert mit 80.000 DM. Mit dem Geld entwickelte sie den dreiminütigen Pilotfilm weiter.
Wieder treibt es den Tänzer durch Paris, diesmal auf der Suche nach der mysteriösen, titelgebenden »Georgia«. Mit raffinierten Kameraeffekten und ausgefeilter Schnitttechnik gelangen der Förderpreisträgerin des Landes (2001) faszinierende Animationen. Wie etwa jene Einstellung, in der der Tänzer, nachdem er endlich seine Georgia am Seineufer erblickt hat, sich um sich selbst zu drehen beginnt, wie ein Blatt im Wind. Schneller und schneller, um schließlich, wie von einem Sturm erfasst, zu entschwinden.
Heute zählt Stephanie Thiersch zu den aufregendsten und vielseitigsten Choreografinnen und Medienkünstlerinnen im Land. In ihren somnambulen Arbeiten, in denen sich filmische Fiktion und Live-Action verbinden, inszeniert sie weniger eine eigene Körpersprache als Stimmungen und Atmosphären, aus Tanz und Video, Installation und Performance. Als einzige Künstlerin aus NRW ist sie zur Tanzplattform Deutschland 2006 geladen, die in diesem Monat in Stuttgart stattfindet. Dort zeigt sie das Tanztheater »Under Green Ground« (2005), das von der Ikonografie der Weiblichkeit handelt, verkörpert von Alexandra Naudet – einem Bild von einer Frau.
»Die Einladung ist eine Anerkennung, die gut tut«, sagt Stephanie Thiersch, »und ein Fenster nach außen«. Nach außen geblickt hat sie in jüngster Zeit eigentlich recht oft und auch weit. Mit »Under Green Ground« bereiste sie Europa und Mittelamerika. In diesem Jahr stehen noch Prag, Paris und Indonesien auf dem Tourneeplan. Die Künstlerin wirkt in den Tagen vor der Premiere ihres neuen Stücks leicht gestresst. Beim Interview sucht sie diesen Eindruck durch Fröhlichkeit zu überspielen. Am Abend zuvor hat sie den Kölner Tanztheaterpreis für »Under Green Ground« entgegen genommen, um zwei Uhr in der Frühe war sie zu Hause.
Jetzt steht die Uraufführung von »Helter Skelter« an. Das Medieninteresse ist groß. Das erste Interview für ein Printmedium hat sie heute schon hinter sich. Das TV-Team von 3sat wartet bereits in der Caféteria des tanzhaus nrw. Am Abend ist Generalprobe. Die 35-Jährige schüttelt ihre kastanienbraune Lockenmähne, als könnte sie so die Müdigkeit zerstreuen, reibt sich die Augen. Und konzentriert sich.
»Helter Skelter«: Wieder Bilder, nichts als Bilder – von Frauen. »Das Thema von ›Under Green Ground‹ war noch nicht ausgeschöpft«, sagt sie. »Blicke, Blickverhältnisse, Brüche durch vorgefertigte Bilder – wir hatten so viel Material, dass wir noch mal etwas damit machen wollten.« »Helter Skelter« bedeutet so viel wie »Hals über Kopf« und bezieht sich auf einen Schriftzug, den der Massenmörder Charles Manson an den Tatorten hinterließ.
Stephanie Thiersch stieß im Internet auf ein Bild von der blutigen Schrift an einer Scheibe: »Ich fand das fürchterlich.« Die Symbolkraft der Morde aber packte sie. Denn es waren ausschließlich junge Frauen aus der gehobenen, weißen Mittelschicht, die im Auftrag Mansons zur Tat schritten. Der Verweis auf Manson bleibt in »Helter Skelter« allerdings vage. Gemordet wird »nur« seelisch. Alexandra Naudet, Andrea Catania, Karen Piewig, Teresa Rainieri und Agustina Sario sind die fünf Weibs-Bilder, die den Voyeuren willige Objekte sind. Sie setzen sich in Unterwäsche und Gummistiefeln den Blicken aus und in Pose, stellen Fotos aus dem Fernsehen, dem Internet und Illustrierten nach. In ihrer Abstraktion – die Frau als Mann – und Zwanghaftigkeit legen diese Szenen Machtverhältnisse offen. Die Umarmung wirkt wie ein Würgegriff, ein Tätscheln des Pos demütigend, das Herunterdrücken eines Kopfes erinnert an die Aufnahmen aus dem Gefangenenlager Abu Ghraib.
Die Performance macht klar, dass die Frau auch im 21. Jahrhundert noch Opfer ist. Wie zerrissen sie ist, zwischen Gewalt (fremder wie eigener) und Gier nach Bewunderung, symbolisiert die Bühne. Eine weiße, grobteilige, wie aus überdimensionierten Spielzeugklötzen zusammengesetzte Mauer dient als Leinwand, die in Einzelteile zerfällt und so die Projektionen, wie die des Gesichts von Alexandra Naudet, zerteilt. Eine so originelle wie funktionale Kulisse: Die Puzzlestücke, angeordnet wie eine Wohnlandschaft, dienen als Liege, Stuhl, Puppenwiege, Podest oder Versteck.
Der Technologie-Freak in der Choreografin, die schon mit Dioden die Gehirnströme eines Zuschauers maß und als Impuls für Projektionen und Soundmaschinen nutzte (»ba:ab«, 2000), ist in ihren jüngsten Arbeiten deutlich weniger am Werk. »Under Green Ground« ist ein reines Tanzstück, »Helter Skelter« zeigt nur kurze Videos. Ist der Hype um die Technisierung des Tanzes vorbei? »Ich habe das Gefühl, dass die Faszination nachgelassen hat und die Kunst sich wieder den großen Themen des Lebens stellt. Ich merke es ja auch an mir selbst«, sagt sie. Was keineswegs ausschließt, dass sie für dieses Jahr wieder einen Film plant.
Stephanie Thiersch gehört zu der Choreografen- Generation, die gebildeter und vielseitiger ist als je zuvor. Es sind Künstler, die sich nicht nur mit der Tanzkunst beschäftigt haben, bevor sie zur Bühne drängten. Xavier Le Roy beispielsweise studierte Molekularbiologie, Micha Purucker Architektur, Tom Plischke Philosophie und Kunstgeschichte.
Auch Stephanie Thiersch reichte die klassische und moderne Tanzausbildung in Wiesbaden und am Centre National Chorégrafique bei Dominique Bagouet in Montpellier nicht. Sie studierte noch Romanistik, Anglistik und Medienwissenschaften, bevor sie 1997 die Gruppe »MouVoir« gründete, eine »Tanzwerkstatt zur Erforschung intermedialer Sphären«. Tut diese Intellektualisierung dem Tanz gut? »Ich finde Choreografen interessant, die über ihr Genre hinausblicken. Stücke mit aktuellen Fragestellungen sind wichtig«, sagt sie. Nur: Verschwindet der Tanz nicht hinter den anderen Kunstformen? »Im Konzept-Tanz war das so. Das ist vorbei. Das war so eine Welle wie die Medientechnologie«, meint sie. Letztlich sei Technik aber doch nur ein Hilfsmittel wie Kulissen und Kostüme.
Trotz ihrer Faszination für moderne Technologie zeichnen Stephanie Thierschs Arbeiten oft eine geradezu altmodische Tugend aus: Ob die Traumwelt von »Georgia« oder die Unterwasserlandschaft von »ripple-re-vu« – ihnen entströmen Sinnlichkeit und Poesie. Eine Poesie, bisweilen Sentimentalität, die sie bei dem französischen Tänzer und Choreografen Dominique Bagouet und seiner anrührend intellektuell-naiven Formensprache erlebt hat und selbst interpretierte. »Mein Körper hat sich dabei sehr wohl gefühlt«, erinnert sie sich, »das war meine Welt, sehr emotional.« Ist Stephanie Thiersch sentimental? »Kann sein. Aber ich gebe dem nicht nach. Vielleicht aus Angst, schwermütig zu werden. Ein Zustand an der Grenze zur Depression. Und die möchte ich nicht überschreiten.« Bagouet, der früh an AIDS verstarb, hat die Choreografin stark beeinflusst. Nicht nur durch seine Ästhetik, auch durch sein romantisches Lebensgefühl. In Südfrankreich tanzte sie viel auf der Straße, probierte Improvisationsansätze aus. Die junge Tänzerin liebte es, mit der Truppe von Festival zu Festival zu ziehen – Montpellier Danse, Festival d’Avignon. Beneidenswert.
Unerwartet altmodische Züge hat die junge Mutter übrigens auch privat: Ihren zweijährigen Sohn nahm sie nicht mit dem neusten Camcorder-Modell auf, sondern mit der guten, alten Spiegelreflexkamera. //
Helter Skelter, 15. – 17. Februar 2006, Alte Feuerwache Köln Tel.: 0221/97 31 55 0, www.mouvoir.de