TEXT: ANDREAS WILINK
Also jetzt! Es war das Wort, das Karin Beier sprach, wohl sprechen musste. Zur rechten Zeit. Sie hat sich – unabhängig von Wahlkampf, Parteienzank und Regierungsbildung – des Hamburger Senats klug versichert. Ihre Hamburger Dramaturgie war perfekt. 2013 wird sie das Deutsche Schauspielhaus übernehmen, nachdem ihre Wünsche (Erhöhung des Etats um 2,5 Millionen) dort akzeptiert wurden. Alle sachlichen Gründe votierten für Hamburg, Köln hätte sie nur noch emotional zögern lassen können. Kölns Stadtobere lehrte die zielstrebige, streitbare und mündige Beier das Fürchten. Vielleicht liegt es daran, dass man der sagenhaft erfolgreichen Intendantin wenig Anlass gab, sich über sechs Jahre hinaus fürs Bleiben zu entscheiden. Eine gewisse Sorte Politiker kann nicht leiden, vorgeführt zu werden und gezeigt zu bekommen, wes Geistes Kind man ist. Salopp gesagt, Kölns Politik hat es vermurkst und verpennt, Karin Beier zu halten: aus Lethargie, Ignoranz und Borniertheit.
Also jetzt! Diese Aufforderung, gerichtet an sich selbst, wäre so etwas wie der Wahlspruch für Ilya Ilyitsch Oblomows Existenz, deren Schilderung durch Gontscharow der Kollege Kropotkin zu Unrecht als »Hohelied der Faulheit« verurteilt hat. Die dazu passende Bewegung wäre ein Sich-Hochstemmen, um danach zurückzusinken.
Oblomow verpennt die Tage. »Sterben – Schlafen. Vielleicht auch träumen!«, würde Hamlet sagen, sein tatvollerer ferner Bruder. Groß ist die Versuchung des Schlafes als Abbild des Todes. In einer Erinnerung (im Roman: Kapitel 9) begegnet Oblomow seinem Ich im Knabenalter, wie er in die mittägliche Totenstille des sommerlichen Hauses lauscht.
Ein Hypochonder und Stubenhocker, unbotmäßig wie jeder Neurotiker und in allem ganz er selbst. Nichts ärger, als ihn zu vergleichen mit »Anderen«, wie es sein Diener Sachar tut. Das kränkt ihn. Der russische Adelige lebt schlecht und recht von seinen Einkünften aus dem Gut, lässt Rechnungen unbezahlt, weiß nicht, ob man ihn nicht aus seiner Petersburger Wohnung wirft. Fragen zu beantworten verschiebt er lieber auf morgen.
Der autistische Oblomow ist, ohne zu schreiben, Dichter seines Lebens. Ein Philosoph, der darüber grübelt, warum er ist, wie er ist, und was und wann das Leben sei? Die Seele dieses Idealisten, der Byron und Schiller las, strebt nirgends hin. Seine Liebe zu Olga (Dagmar Sachse), die Freundschaft zum Jugendfreund Stolz (Martin Reinke), dem geschäftigen Propagandisten der Arbeit, sind periphere Erscheinungen. Nur mit Sachar (Abi Kitzl) verbindet ihn raunzende Innigkeit, bis der Tod sie scheidet. Ruhig zu bleiben, etwas lieber nicht zu tun – wäre sein Glück. So erlischt er. Der Abgrund, der sich auftut, gleicht einem gähnenden Mund.
Wie inszeniert man das? In aller Ruhe und Langmut. So der lettische Regisseur Alvis Hermanis in der Halle Kalk. Der Bühnenraum in breiter Front wurde von Kristine Jurjane akkurat bis in den letzten Winkel ausstaffiert und ausgepinselt. Er hat die Atmosphäre einer bräunlichen Daguerrotypie, erhellt von sanften Lichtinseln. Das Mobiliar mit Kanonenofen: reinstes 19. Jahrhundert. Man neigt dazu, auf Menschen und Gegenstände in ihrer grotesk konturierten Possierlichkeit die Verkleinerungsform anzuwenden.
»Die Zeit geht nicht, sie stehet still«, heißt es in einem Gedicht Gottfried Kellers, eines Zeitgenossen von Gontscharow. Während die Uhr tickt, liegt Oblomow auf seinem Diwan in Gestalt des wunderbaren Gundars Abolins, ebenso ausgestopft unter seinen Kleidern wie die Übrigen, mit onduliertem Haar, goldgelbem Backenbart und jammervoll hoher Stimme: ein Peter Ustinov-Typus. Gutmütig, zart, unschuldig und verwöhnt.
Mehrmals erklingt die Norma-Arie »Casta Diva«, Oblomows Lieblingsmusik. Ein Sehnsuchtsruf. Hermanis lässt sich (trotz Weglassungen wie Oblomows Heirat und Vaterschaft) alle Zeit der Welt und inszeniert die Tragödie eines lächerlichen Mannes – ohne assoziativ aktualisierende Bezüge – in einem Naturalismus bis zur hyperrealistischen Übersteigerung. Gerade der konventionell konservative Ansatz schafft Verfremdung und ein wehmütig schmerzendes Befremden. Stillstand – ein kollektiver Zustand? Am Ende verfällt auch Stolz der Schlafkrankheit, wenn er in die Bettstatt des vom Schlaganfall getroffenen Oblomow kriecht.
Stillstand und Bewegung, noch einmal – anders. Prinzip Arbeitsteilung: außerhalb und innerhalb des Ichs. Bewegungsabläufe, die Stimme, der Körper, die Gedanken, Erscheinung und Eigenschaften – alles grenzt sich von einander ab, isoliert sich, bildet eigene Wesenheiten. Die kompakte Persönlichkeit – eine Chimäre. Das Theater der Katie Mitchell ist die schmerzhafte Operation an der Idee der Einheit: Die Wunde, die davon zurückbleibt, heilt nie. Was bietet sich da als Stoff besser an, als Virginia Woolf. »Die Wellen«, vor 80 Jahren erschienener Roman der Stille, gibt die Technik des Multiperspektivischen vor für Mitchells visuellen Bodytalk, den sie in Köln bereits beim Kroetz-»Wunschkonzert« ausbuchstabierte.
»Mit der Schnitttechnik Einzelheiten aus dem chaotischen Material der Realität hervorzuheben«, hat Peter Weiss Sinn und Zweck des Dokutheaters definiert. Dies gilt auch methodisch für die Installationen der Engländerin: ihre Präparationen am offenen Herzen der (Dramen-)Literatur, ihre Entdeckungen des Landes der Seele, ihr Freilegen der zarten Membran, die das Individuum von sich selbst und anderen trennt. Sechs Personen treiben im Bewusstseinsstrom der »Wellen«, aus dem Inseln naturlyrischer Prosa ragen. Bernard, Jinny, Neville, Susan, Louis und Rhoda sind Verwalter des Sagens: in Subjektivitäts-Splittern, Momentaufnahmen, Episoden, Selbstgesprächen und Reflexionen. Wissend, »dass das Leben vielleicht nicht auf die Behandlung anspricht, die wir ihm zuteil werden lassen, wenn wir es zu erzählen versuchen. »Ich bin dies, ich bin das. Reden verfälscht.«
Doch der Versuch von Ordnung, Abfolge, Datierung wird von Mitchell (deutlicher als bei Woolf) unternommen: vom Seeort St. Ives über Kindheit, Schule und Universität zur Erwachsenenzeit, von London 1906 bis London 1933 schwimmen die Personen in Erinnerungen, um erschöpft den Archipel Einsamkeit zu erreichen. Die Schauspieler der sechs Figuren, ergänzt um die Erzählerin Virginia (Ruth Marie Kröger)und den Lover Boy Percival (Sebastian Pircher), sind zwar fest umrissen, aber doch auch Spaltung und Diffusion unterworfen. Sind Aktivisten der Logistik und minutiöser Synchronabläufe, wuseln, hantieren und richten zu, werden zu Geräuschemachern, Kameraleuten, Sprechern und Darstellern, um sodann identifikatorisch mit einer Emotion zu verschmelzen. Ganzheit und Getrenntsein liegen permanent im Zwist.
Die stete Ton- und Bildproduktion mit Mikrofon, Kamera und Projektion birgt zwar die Gefahr, Aufmerksamkeit zu absorbieren. Gleichzeitig fasziniert das ausgestellte Making-of, indem es den Abstand zwischen der Einfachheit der Handwerksmittel und der Raffiniertheit der kompositorischen Effekte vor Augen führt. Das reicht von deskriptiver Abbildung, die sich als imitation of life kenntlich macht, zur verstörenden Verdichtung und konzentrierten Auflösung wie in einer späten Beethoven-Sonate. Die versiegelte Zeit als solche zu zeigen und sie aufzubrechen, geschieht hier im selben Moment. Und ist die große Kunst. Mitchells Inszenierungen sind darin Bergmans Filmen verwandt: Blicke in den Spiegel – von Angesicht zu Angesicht.
Nie ist der Apparat die Muse, sondern Instrument zum Erhellen innerer Zustände. Der kalten Studiotechnik zum Trotz entsteht ein besonderes Fluidum. Banaler Alltag wird erfasst bis in seine monströse Vergrößerung: Close-ups von Gesichtern und Verrichtungen. Ein Lappen wird ausgewrungen, Laken wehen im Wind, eine Feder kratzt über Papier, Bernards (Yorck Dippe) Rasierpinsel taucht in Wasser, ein Frühstücksgedeck wird aufgetischt, ein Dinner gefeiert, Rhoda (Birgit Walter) wälzt sich auf der Matratze, Susan (Julia Wieninger) lugt aus grünem Blattwerk. Und es deutet sich ein Liebesdrama – das von Neville (Maik Solbach) und Percival – in sich überblendenden Porträt-Ansichten an. Füße wandern durch Laub. Das Leben hält an. Am Ende funkelt auf der Leinwand, hinweg über den Abgrund des Schweigens, prismatisch gebrochen ein Weinpokal mit roter Flüssigkeit.
Zwei großartige Aufführungen in einer bislang furiosen Spielzeit. Gehen wir jetzt in dieses Theater. Verschieben wir es nicht auf morgen – wie Oblomow.