TEXT: ANDREJ KLAHN
Tschichatschow. Andrej Tschichatschow. Das klingt nicht wirklich einprägsam, doch man sollte sich den Namen merken. Oder eben einfach nur: Tschick. Tschick wie Huck. Denn wie »Die Abenteuer des Huckleberry Finn« ist »Tschick« eines jener Bücher, von dem seine Leser vielleicht einmal sagen werden, dass es sie zur Literatur bekehrt hat, damals, als sie auf den Schulklos noch heimlich rauchten. Ein unfassbar komischer und zugleich wehmütiger Coming-of-age-Roman, der uns den eigenen Verlust von Jungsein spüren lässt, das Verschwinden einer Zeit, die genau so erinnert werden muss, wie sie sich in Wolfgang Herrndorfs Roman »Tschick« anfühlt. Auch wenn es ganz anders gewesen ist.
Tschick wohnt im plattenbebauten Osten Berlins, trägt 10-Euro-Jeans aus dem Ramschladen und unförmige Schuhe, die aussehen »wie tote Ratten«. Wenn der 14-jährige Russlanddeutsche nicht gerade betrunken ist, liefert er recht passable Klassenarbeiten ab, weshalb Tschick von der Förderschule auch aufs Marzahner Gymnasium hochgereicht wurde. In die Klasse von Maik Klingenberg, dem Ich-Erzähler, der Tschick für einen »Assi« und sich selbst für so langweilig und uninteressant hält, dass man ihm nicht mal einen Spitznamen verpasst hat.
Sommerferien. Maiks Mutter verbringt mal wieder Tage auf einer »Beautyfarm«. So heißen bei den Klingenbergs ihre Aufenthalte in der Suchtklinik. Gelegenheit für den Vater, mit der gut aussehenden jungen Assistentin einen Geschäftstermin wahrzunehmen, zwei Wochen lang. Und während der unglücklich verliebte Maik sich gerade davon zu überzeugen versucht, dass ihm großartige Ferien am Pool bevorstehen, »mit Blaumeisen-Morgenstunden« und Rasensprengen im elterlichen Garten, fährt Tschick im geklauten Lada Niva vor, um Maik mitzunehmen in die Walachei. Damit hätte Wolfgang Herrndorf alles beisammen für den dreihundertsten Roadroman der Literaturgeschichte.
Doch Herrndorf, der Malerei studiert und für die Titanic gezeichnet hat, ist kein Freiheitspathetiker. Er schickt Maik und Tschick mit einem aus dem Kaugummiautomaten gezogenen Kompass auf die Autobahn, Richard Claydermans »Solid Gold Collection« im Kassettenrecorder. Dennoch: »Alles war größer, die Farben satter, die Geräusche Dolby Surround, und ich hätte mich, ehrlich gesagt, nicht gewundert, wenn auf einmal Tony Soprano, ein Dinosaurier oder ein Raumschiff vor uns aufgetaucht wäre.« Manchmal fühlt sich eben auch Tempo 30 wie 200 km/h an.
Ein lässigerer deutscher Erzähler als Wolfgang Herrndorf ist derzeit kaum zu finden. Seit Erscheinen seines ersten Romans »In Plüschgewittern« vor acht Jahren begleitet Herrndorf dieser Umstand als Zynismus-Vorwurf. Seine existenziell einsamen Anti-Helden nehmen weder sich, noch andere ernst. Das hypersensibilisiert sie für die Lächerlichkeiten des Lebens. Wer heute wissen will, wie absurd das von Menschen mit »Kommunikationsbrillen« bevölkerte Berlin der 1990er Jahre war, der wird in »In Plüschgewittern« vermutlich eher fündig als in so manchem Nachwenderoman. Und wer noch einen Beleg für die Kunstfertigkeit der lakonischen Herrndorf-Prosa braucht, der hat ihn mit »Tschick« nun endgültig bekommen.
Konsequent schrumpft sich der 1965 in Hamburg Geborene in das Erleben Maiks hinein, findet neben »endgeil« und »superporno« auch dann noch Worte, wenn es 14-Jährigen die Sprache verschlägt und macht aus Maik einen hyperreflexiven Erzähler, ohne ihm die Naivität der Heranwachsenden zu nehmen. Den Roman allein vor Maiks Horizont zu entfalten, ist ein riskantes Unternehmen. Doch es findet sich kein falscher Ton, kein geliehenes Gefühl. Herrndorf ist klug genug, sich nicht an »die jungen Leute« heranzuonkeln, um ihnen ihren »Sound« abzulauschen. Mit anarchischer Lockerheit verleiht er der Geschichte selbst dann noch Rasanz, wenn Maik und Tschick mit Strohhalmen Benzin aus Tanks zu saugen versuchen. Ein großartiger Roman ist das, der die Pubertät als unendlich kostbare, unfreiwillig anarchische und grandios peinliche Zeit ernst nimmt. Einige Sommerferientage lang.
Schade eigentlich, dass die Jury des deutschen Buchpreises daran gescheitert ist, »Tschick« zumindest auf die Longlist des im Oktober verliehenen Buchpreises zu setzen.
Wolfgang Herrndorf, »Tschick«. Rowohlt Berlin, 2010, 254 Seiten, 16,95 Euro