TEXT: VOLKER K. BELGHAUS
Eine Distanz von 6000 Kilometern ist ein guter Anfang, wenn man vor etwas weglaufen will – vor der eigenen Firma, vor der Familie und der Verantwortung. »Nutzlos sein«, antwortet der Frotteefabrikant Kurt Tietjen auf die Frage seiner Tochter Luise, was er nun eigentlich in New York City wolle. In Essen hat das Familienunternehmen »Tietjen und Söhne« derweil mit Problemen zu kämpfen – mit der Globalisierung, der Wirtschaftskrise, geschönten Zahlen und schwindender Größe. Die Zeiten, in denen der Firmengründer Justus Tietjen auf die Idee kam, Frotteetücher an das kaiserliche Heer zu liefern, sind lange vorbei. Stattdessen lässt man die Wäsche in China und Bangladesch fertigen, näht in Essen nur noch die Etiketten ans Frottee und strickt an den Bilanzen herum. Kurt Tietjen entzieht sich diesen Umständen und verkriecht sich in einer der schäbigsten Ecken Brooklyns, so dass es Haupterbin Luise ist, die die Geschäfte weiterführen muss.
Nora Bossongs Roman »Gesellschaft mit beschränkter Haftung« ist die Geschichte einer Distanzierung und Überforderung; keiner scheint hier am richtigen Platz zu sein. Weder Kurt, der Idealist und Realitätsflüchtling, der den Muff in Essen und die Arbeitsbedingungen in Asien nicht er- und mittragen will, noch Luise, die mit ihren 27 Jahren ungewollt Verantwortung für die Firma übernehmen muss: »Sie hatte nie den Anspruch besessen, die Welt zu verstehen, sie wollte nur nicht in ihr untergehen.«
Auch Nora Bossong bleibt auf Distanz und kommt ihren Figuren nicht zu nah; wechselt furios zwischen den Jahrzehnten und den Erzählperspektiven. Wie sich Vater und Tochter in New York verständnislos belauern und nicht mehr erkennen – er, der etwas verwahrloste Tagedieb und sie, die scheinbar harte Geschäftsfrau – das erzählt Bossong aus beiden Perspektiven. Lebenslügen werden präzisiert – und die Erkenntnis, dass am Ende beide Generationen an ihren zurechtgebogenen Realitäten scheitern werden.
Nora Bossong: »Gesellschaft mit beschränkter Haftung« Carl Hanser Verlag, München 2012, 304 S., 19,90 Euro
Lesung am 13. Juni 2013 im Ringlokschuppen, Mülheim a. d. Ruhr