TEXT: VOLKER K. BELGHAUS
Tokio kann poetisch sein. Kirschblütenfarben, zwischen Gestern und Morgen. An den Wänden der Neubauten sind noch die Umrisse der abgerissenen Häuser zu sehen; Schatten aus der Vergangenheit. Hinter der traditionellen Bebauung wachsen Wolkenkratzer in den Himmel, umglüht von flirrenden Neonreklamen. Es geht aber auch anders, utopischer. Dann ist Tokio ein riesiger Datenraum voll vernetzter Mensch-Maschinen, hochhausgroße, rennende Kampfroboter schlagen Schneisen in die Vorstädte oder die Metropole wird selbst zu einer Kampfmaschine und transformiert sich im Fall eines Alien-Angriffs in eine waffenstarrende Festung.
Das alles ist möglich in den japanischen Animationsfilmen, die kurz »Anime« genannt werden. Der Hartware MedienKunstVerein (HMKV) zeigt in der Ausstellung »Proto Anime Cut – Räume und Visionen im japanischen Animationsfilm« im Dortmunder U Originalzeichnungen der wichtigsten Regisseure und Illustratoren des Genres. Dazu gehören Hintergrundmalereien, Storyboards und Skizzen – die analoge und originale Vorarbeit für die großen Klassiker wie »Ghost in a Shell« oder »Neon Genesis Evangelion«.
Mit dabei sind Arbeiten von Hideaki Anno (Regisseur »Neon Genesis Evangelion«), Haruhiko Higami (Fotograf), Koji Morimoto (Regisseur »Dimension Bomb«), Hiromasa Ogura (Art-Direktor), Mamoru Oshii (Regisseur »Patlabor – The Movie / »Ghost in a Shell«) und Takashi Watabe (Layout). Die Ausstellung ist ein Projekt von »Les Jardins des Pilotes« (Berlin) in Kooperation mit »2dk« (Tokio) und wird von Stefan Riekeles und David D’Heilly kuratiert. Riekeles ist Japan-Kenner, Kurator der »Transmediale Berlin« und der letztjährigen »ISEA« und hat die Schau vier Jahre lang vorbereitet. Seit 1964 mit »Astroboy« die Anime-Welle begann, werden immer mehr Serien angefertigt; pro Woche produziert man in Japan ca. 40 neue Titel, meist für parallel laufende Serien. Industriell gefertigte Kreativität, die sehr unübersichtlich ist, gerade wenn man Qualität sucht. Riekeles hat sie gefunden und sieht »Proto Anime Cut« als die »Oberfläche einer Verhandlungsmasse«, da die Rechtslage der Werke ziemlich komplex ist – oft gibt es vier Rechteinhaber, oft sogar mehr. Allein für die Grundlagenrecherche benötigte Riekeles zwei Jahre.
Die Schau beginnt mit einem realistischen Blick auf Tokio – Schwarzweißfotos des Konzeptfotografen und Locationscouts Haruhiko Higami; die Grundlage späterer Set-Designs. Auch wenn das Material hinterher in Science-Fiction-Animes verwendet wird, sind es auch Blicke in die übriggebliebene Vergangenheit; auf Kanäle, die einst in der »Lagunenstadt« Tokio den Kaiserpalast umgaben und in den 1960er Jahren, bis auf wenige Ausnahmen, zugeschüttet wurden. Für die Japaner ist es reizvoll, in den Anime-Visionen immer auch Teile der gegenwärtigen Stadt zu entdecken.
Der HMKV verzichtet zum Glück darauf, die Ausstellung mit Monitoren zuzustellen. An drei Stellen werden zwar per Beamer Filmausschnitte aus den präsentierten Anime-Produktionen gezeigt; im Mittelpunkt steht aber das Analoge, die Handarbeit. Zarte Bleistiftskizzen, die eine Gebäuderuine so detailliert zeigen, dass man meint, die einzelnen Schimmelflecken zu erkennen; Storyboards mit bewaffneten kleinen Mädchen, fein gezeichnete Aquarelle, die stilistisch so gar nichts mit dem klassischen Anime-Stil zu tun haben oder bemalte Zelluloidfolien von Koji Morimoto, die foto-realistische Hintergrundpanoramen zeigen – jedes für sich ein Kunstwerk. Dabei sind die Zeichner mit ihren Werken nicht gerade pfleglich umgegangen – Risse, Knicke und Wasserflecken sorgen für zusätzliche visuelle Reize.
Die Ausstellung ist der Auftakt der Japan-Schwerpunkts des HMKV, der mit dem »Japan Arts Festival« fortgesetzt wird. Dort stehen interdisziplinäre Themen wie Medienkunst, Animes, Mangas, Videospiele, Musik und interaktive Installationen im Fokus. Die Liebhaber von Filmen, in denen architekturkritische Riesenechsen ganze Metropolen einebnen, kommen im Rahmenprogramm zu »Proto Anime Cut« auf ihre Kosten: Der Autor und Horrorfilmer Jörg Buttgereit präsentiert eine Reihe ausgewählter Monsterfilme – eine Kooperation mit dem Schauspielhaus Dortmund.
»Proto Anime Cut«: 9. Juli bis 9. Okt. 2011. Japan Media Arts Festival: 10. Sept. bis 2. Okt. 2011. HMKV im Dortmunder U. Tel. 0231/496642-0. www.hmkv.de. http://dortmund.bunka-jmaf.jp
Fotos mit freundlicher Genehmigung von Les Jardins des Pilotes