Mit den Namen fangen die Schwierigkeiten an: Aus dem Patriarchen-Namen Jakob leitet sich das französische Jean, daraus das kosende Janki ab. Sohn »Schmul« François wiederum ändert in ökonomischer Absicht nicht nur den Väterglauben und lässt sich taufen, sondern auch das jüdische Meijer in ein schweizerisch unverdächtiges Meier. Mit dem J geht der Jude verloren. Wenn es nur so einfach wäre – vor sich selbst und der Welt. Janki Meijer – bleiben wir bei dieser Form – steht eines Nachts vor der Tür seines Onkels Salomon, als einer von Napoleons geschlagenen Soldaten. Er lässt sich nieder im Judendorf Endingen im Aargau, wird Stoffhändler mit Pariser Chic und nach einigen Widrigkeiten nicht Ehemann von Salomons kapriziöser Tochter Mimi, die eigentlich Miriam heißt, sondern von dessen Adoptivkind Chanele, deren Name eigentlich Hanna ist.
Wenn es an der Tür pocht, passiert was bei den Meijers. Künft ige Bräutigame erbitten zu später Stunde Einlass in den Familienkreis. Zalman Kamionker wird nach solch einem Auft ritt Jankis Schwiegersohn; Alfred Meijer begegnet so Désirée Pomeranz, der Tochter Mimi Meijers; auch Felix Grün steht später einmal da, wartet und nimmt Rachel, die Urenkelin von Salomon und Golde, zur Frau.
Das sind Leitmotive in Charles Lewinskys Roman »Melnitz«, den man mit Recht einen Schmöker nennen kann, aber nur, wenn auch die »Buddenbrooks« einer sind. Der in Zürich und Frankreich lebende 60-jährige Autor schildert in fünf epischen Kapiteln entlang der Zeitmarken 1871, 1893, 1913, 1937 und 1945 mit filmischer Dramaturgie und Schicksals-Regie nicht den Verfall einer Familie, vielmehr deren Aufstieg von Viehhändlern und Schneidern zu wohlhabenden Bürgern, Unternehmern und Akademikern. Und schildert, indem sich Exemplarisches und Besonderes binden, deren Gefährdung und Identitätskrisen. Die Erfahrung der Ungleichheit begleitet die Meijers als chronischer Schmerz, manchmal auch als Liebesschmerz. Wie bei Jankis jüngstem homosexuellen Sohn Arthur, der sich als Ausnahme und doppelt fremd fühlt und in einer rührenden Begegnung mit dem Sportsmann Joni Leibowitz sein »Brokeback Mountain « erlebt. Arthurs ärztliche Aufforderung »Bitte, mach dich frei« erhält einen emanzipatorischen Appell an sich selbst.
Lewinsky kann fabelhaft erzählen, lebensklug, weltfromm und im illusionslosen Glanz eines jüdischen Gottfried Keller. Er findet den Ton für das, was in einer Mischpoche zum Eigenen gehört: sich legendär ausschmückende Episoden, spezifi sche Redewendungen, Erinnerungs-Reliquien. Und ihm gelingt, was zu jedem europäischen Jahrhundertbuch dieser Epoche in ihrer Monstrosität und Absurdität gehört: die Katastrophe des Holocaust, auch als Folge aller gewesenen Pogrome, Vertreibungen und Ausgrenzungen, zu erfassen. Aus indirekter Sicht, rein aus der Ferne. Zwar gelingt den Meijers, Leben zu retten und vor dem Nazi-Zugriff ; dass es dennoch nicht trivial idyllisch zugeht, dass die Arche Noah Schweiz ihre Boot-ist-voll- Mentalität und ihren gewöhnlichen Antisemitismus off enbart, dafür sorgt schon der durch Zeiten und Geschichte wesende Onkel Melnitz: ein Untoter, der als Über-Ich und lästiger Mahner seine Nachfahren heimsucht. Melnitz ist die Gestalt gewordene Erinnerungskultur der Meijers.
Charles Lewinsky: Melnitz. Nagel & Kimche Verlag, 772 S., 24,90 €