TEXT: ANDREJ KLAHN
In der Regel finden sich Angaben über das Alter eines Autors im Klappentext. Ein Buch mit dem eigenen Geburtsjahr zu betiteln, ist ungewöhnlich. Eine gute Idee kann man das eigentlich nur nennen, wenn man zum literarischen Lautsprecher Gleichaltriger werden will. Félix Bruzzone wurde 1976 in Buenos Aires geboren. Er ist ein Leisesprecher. Dennoch steht eine große rote »76« auf dem Cover seines ersten auf Deutsch erschienenen Prosabandes. Wenn man die Generationszugehörigkeit einmal nicht über eine gemeinsame Konsumerfahrung ermitteln will, also nicht über das, was Heranwachsende im Überfluss haben, sondern durch das, was sie nicht hatten, dann ließe sich behaupten, dass sich in »76« ein Lebensgefühl, eine verbindende Trauer artikuliert. Bruzzones Protagonisten teilen, dass ihnen etwas existenziell fehlt: Eltern. Und dieser Verlust prägt das Leben nicht weniger der in den 1970er und 1980er Jahren geborenen Kinder Argentiniens.
»Desaparecidos«, Verschwundene, so werden in Mittel- und Südamerika all jene genannt, die in den Militärdiktaturen verhaftet worden und danach nie wieder aufgetaucht sind. In Argentinien beginnt die Zeit, in der massenhaft Oppositionelle spurlos verschwinden, am 24. März 1976 – im Geburtsjahr Félix Bruzzones. An diesem Tag beenden die Militärs unter Jorge Videla handstreichartig die Amtszeit Isabel Peróns. In den folgenden zwei Jahren sollten schätzungsweise 30.000 Menschen dem von der Junta verordneten Staatsterror zum Opfer fallen. Politisch Missliebige, die ohne Gerichtsverfahren inhaftiert, gefoltert und häufig über dem Atlantik aus dem Flugzeug geworfen wurden.
Félix Bruzzones Mutter »verschwand« spurlos knapp drei Monate nach seiner Geburt, der Vater etwa drei Monate davor. Die Großmutter hat Bruzzone aufgezogen, so wie auch der junge Ich-Erzähler in der Auftakterzählung »Haus am Meer« bei der Oma aufwächst. Vor den ihn malträtierenden Freunden schwört er »bei meiner Mama«, dass er sie nicht verpetzt habe. Von dem wenig älteren Ramiro wird er mitleidlos ermahnt, nicht auf etwas zu schwören, das er nicht hat. Ramiro muss es wissen, denn auch er hat keine Mutter. Mota hingegen fehlt der Vater, wofür ihn die Regierung mit Geld abgefunden hat, von dem er sich einen Unimog kauft, um damit Richtung Córdoba aufzubrechen und die Spuren des Verschwundenen aufzunehmen. Die Erwähnung, dass die Eltern während der Diktatur »verschwunden« sind, ist dem Ich-Erzähler in »Was in einen Becher passt« eine Art »Visitenkarte«. Ein Kärtchen, das so viele in den Erzählungen Bruzzones mit sich tragen und dabei ganz unterschiedliche Formen der Trauer ausbilden.
Spürbar ist dieses Verlustgefühl in jeder Erzählung, häufig hintergründig, bisweilen kaum merklich, in Halbsätzen verabreicht, dann wieder dominiert es die Geschichte als abstrakte Erinnerung. Als Phantomschmerz, der auch deshalb so bohrend ist, weil er sich mit keiner Anschauung verbindet. Denn die meisten dieser Menschen haben nie gekannt, was ihnen fehlt. Ganz unpathetisch erzählt Bruzzone, den die argentinische Tageszeitung Clarín zu einem der zehn wichtigsten Autoren des Jahrzehnts kürte, von dieser allgegenwärtigen Abwesenheit, lakonisch, leicht, davon, wie das politische Jahr »76« den argentinischen Alltag bis heute prägt.
Der Junge, dem sich der 1959 in Buenos Aires geborene Alan Pauls in seinem schmalen Roman »Geschichte der Tränen« nähert, wächst zwar nicht ohne Eltern, aber doch getrennt von seinem Vater auf. Der verlässt die Familie, als der Sohn, ein Wunderkind der Empfindsamkeit, drei Jahre alt ist. Ein paar Monate später kracht das Kind mit einem Supermankostüm und zum Flug ausgestreckten Armen durch die Scheibe der Balkontür. Spätestens von diesem Moment an lernt der Junge, Verletzlichkeit als Stärke zu begreifen. Sensibilität ist sein Talent. Statt zu sprechen, hört er zu, hat allzeit verfügbare Ohren, in die die Anderen, allen voran der Vater, das Gift ihrer Innerlichkeit träufeln. »Er betrachtet die Tränen als eine Art Währung, ein Tauschmittel, mit dem er Dinge kauft oder bezahlt.«
Der Erzähler blickt auf diese Kinder- und Jugendjahre in den 1970ern und 1980ern mit unerbittlichem Ton zurück. Es sind wenige Szenen, aus denen er die Etappen einer Bewusstseinsbildung rekonstruiert, an deren Ende der Junge seine monströse (Mit-)Leidensfähigkeit nahezu verloren hat und Distanz hält zu sich und den Anderen. Während des Konzerts eines aus dem Exil heimgekehrten Liedermachers, zu dem ihn der politisch bewegte Vater mitnimmt, lernt er, sich vor der ihn nötigenden »Empfindsamkeitsindustrie« zu ekeln. Als er am 11. September 1973 zusammen mit einem Freund die flimmernden Bilder vom Putsch gegen Salvador Allende vor dem Fernseher verfolgt, jenen Moment also, als dem Sozialismus eine seiner großen Hoffnungen abhanden kommt, bleiben die Augen des Dreizehnjährigen »so trocken, dass er ein Streichholz an ihnen anreißen und entzünden könnte«. Und so ist diese wunderbar komplizierte »Geschichte der Tränen« auch eine »éducation politique«, die Alan Pauls in seinem nicht minder großartigen Herzenserziehungsroman »Die Vergangenheit« auf fast schon auffällige Weise ausgeklammert hatte. Historische Ereignisse braucht es dafür kaum, schreibt sich diese »Geschichte der Tränen« doch am Leitfaden des Gefühls als eine radikale, rückblickende Introspektion – und dieser konsequent nach innen gekehrte Blick macht diesen kurzen Roman so überhaus lesenswert. Unerbittlich schneiden Alan Pauls’ endlose Sätze in das Bewusstsein des ramponierten Helden hinein, mit Proustscher Ausdauer und Eleganz. So lange, bis der Erzähler die verborgene Mechanik der Dünnhäutigkeit hinreichend freigelegt hat.
Verglichen mit Alan Pauls‘ überkomplexem Kind, wirken die saturierten Erwachsenen, die Claudia Piñeiro in ihrem bereits verfilmten Bestseller »Die Donnerstagswitwen« in »Altos de la Cascada«, einer umzäunten und bewachten Wohnsiedlung unweit von Buenos Aires, ansiedelt, wie gestanzt. Doch das hat in diesem Fall einen sehr hohen Reiz. Denn so bekommt Argentiniens feine Gesellschaft umso schärfere Konturen. Als Krimi wird »Die Donnerstagswitwen« gehandelt. Es beginnt mit drei im Swimmingpool treibenden Leichen, die am Abend des 27. September 2001 umgekommen sind. Am Ende wird der Leser auch wissen, wie und warum sie sterben mussten. Doch das ist kaum mehr als Rahmenhandlung.
Aus wechselnden Perspektiven zeichnet die 1960 in Buenos Aires geborene Claudia Piñeiro zwischen dem Fund und seiner Aufklärung das Leben in der »Gated Community« nach. Sie selbst wohnt auch in einer solchen Siedlung. Wie Pilze schießen diese Schutzräume in den 1990ern aus dem Boden. In einer Zeit, in der die Wirtschaft unter der neoliberalen Politik Carlos Menems Scheinblüten treibt. Doch noch vor der Jahrtausendwende folgt der erneute Absturz, in dem das Bruttosozialprodukt Argentiniens innerhalb eines Jahres um über sieben Prozent einbricht. Vor diesem Hintergrund entfaltet Claudia Piñeiro ihre Versuchsanordnung, schließt Paare, denen es dem Anschein nach an nichts fehlt, in einen weitläufigen goldenen Käfig ein, in dem jeder jeden beobachtet und die Zeichen des Niedergangs aufmerksam registriert werden. Die Männer machen immer schlechter gehende Geschäfte, während ihre Frauen in der heimischen Garage Charity-Flohmärkte organisieren, auf denen sie ihre sündhaft teuren Altkleider aus der letzten Saison für einen guten Zweck an das Hauspersonal verkaufen, das sie sonst verlässlich schlecht behandeln. Was es sonst noch braucht, um die Damen ruhig zu halten, sind Malkurse und Burako-Turniere, derweil die Herren in der Freizeit ein paar Runden auf dem picobello gepflegten Golfplatz drehen.
Hohe Mauern vermögen zwar Bettler, Einbrecher und andere unerwünschte Gäste vom Betreten der Siedlung abzuhalten, gegen die rasant um sich greifende Wirtschaftskrise helfen sie jedoch nicht. Schnell sind die ersten Männer arbeitslos, was den Nachbarn auch nur anzudeuten man aber tunlichst vermeidet. Der Schein des intakten Wohlstandslebens muss gewahrt werden, notfalls wird der Garten eben auf Kredit aufgehübscht. Die räumliche Unausweichlichkeit ist ein dramaturgisch hinreichend bekanntes Arrangement, das in »Die Donnerstagswitwen« seine Wirkung dennoch nicht verfehlt. Maliziös und pointensicher macht Claudia Piñeiro die Abstiegsangst hier produktiv und steigert langsam den Druck auf die geschlossene Gesellschaft – bis zur Implosion. So entsteht, mit leichter Hand skizziert, das Porträt der Upper Class im wirtschaftlichen wie moralischen Abschwung. Das mag bisweilen vorhersehbar sein, und ist doch intelligente Unterhaltung.
Es hatte in den letzten Buchmesse-Jahren häufig ein bisschen was von Pflichtschuldigkeit, wenn Verlage in fernen Ländern auf literarische Entdeckungsreisen gingen, um Autoren und Bücher aus dem Land des sogenannten Ehrengastes ins Herbstprogramm zu hieven. Viele waren schon vergessen, noch bevor nach der Messe gelesen wurde. Wenn diese drei Bücher nicht täuschen, wird es in diesem Jahr anders sein.
Félix Bruzzone, »76«, Berenberg Verlag, Berlin 2010, 142 Seiten, 19 Euro
Alan Pauls, »Die Geschichte der Tränen«. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010, 142 Seiten, 17,95 Euro
Alan Pauls liest am 30.9. im Kölner Literaturhaus und am 13.10. im Museum Folkwang.
Claudia Piñeiro, »Die Donnerstagswitwen«. Unionsverlag, Zürich 2010, 314 Seiten, 19,90 Euro
Claudia Piñeiro liest am 30.9. im Kölner Literaturhaus, am 1.10. auf der Zeche Königsborn II/IV, Bönen, und am 3.10. im Hasperhammer in Hagen.