TEXT: GUIDO FISCHER
Carla Bley hat einmal ausgeplaudert, dass sie musikalisch als Zigarettenverkäuferin sozialisiert worden sei, während sie im New Yorker Nobel-Jazzclub Birdland mit dem Bauchkasten von Tisch zu Tisch ging und live die Big Band-Power eines Count Basie in vollen Zügen inhalierte. 19 Jahre jung war sie da. Den Job machte sie bis 1964, um sich dann zunächst den abstrakten Spielarten des Jazz zu widmen, bevor sie wenig später die Vergangenheit wieder einholte. Mit »Escalator Over The Hill« war ihr 1971 eine zeitge-nössische Jazz-Oper geglückt, die sie mit Rock- und Weltmusik-Rhythmen auflud. Mit gewichtigen Kollegen wie John McLaughlin und Charlie Haden konnte sie hier, unter anderen Vorzeichen, an eben jene Big Band-Tradition anknüpfen.
Seitdem hat Carla Bley ihren Platz in der Belle Etage des Jazz sicher, was schon die Liste an Auszeichnungen unterstreicht. Das renommierte Jazz-Magazin Downbeat kürt sie regelmäßig zur besten Jazz-Komponistin. Nachdem das New Yorker Museum of Modern Art sie mit einer exklusiven Jazz-Reihe ehrte, wurden ihr auch die akademische Weihen verliehen: Carla Bley darf sich mit einem Professorinnen-Titel schmücken.
Dass die Pianistin mit dem markant strohblonden Haarhelm in ihrer amerikanischen Heimat einen so überragenden Ruf genießt, überrascht dennoch. Stand sie doch musikalisch immer mit einem Bein im alten Europa. Nie machte sie einen Hehl daraus, dass der französische Musikkauz Erik Satie und die Beatles sie maßgeblich prägten. Dieser musikalische Kompass ist bis heute allgegenwärtig. Für Keith Jarrett etwa hat sie ein durch und durch von der europäischen Moderne imprägniertes Klavierkonzert komponiert. In ihren instrumentalen Songstrukturen ist der Einfluss von seriösen Hit-Fabrikanten wie Kurt Weill und Nino Rota auch dann nicht zu überhören, wenn Swing, Bop und Fusion die Noten bestimmen.
Nach mehreren transatlantischen Jazz-Überquerungen, die Bley mit ihrer Big Band zurückgelegt hatte, nahm 2003 ihr Wunsch konkretere Züge an, es erneut mit einer kleineren Reisegruppe zu probieren. Ausgeguckt wurden dafür mit Bassist Steve Swallow, Saxophonist Andy Sheppard und Schlagzeuger Billy Drummond drei Musiker, mit denen Bley schon in den verschiedensten Besetzungen gespielt hatte. Auf »The Lost Chords« taufte Bley ihr Quartett, gemäß ihrem Ansinnen, erste musikalische Gedanken für das neue Projekt zu rekonstruieren. Denn kaum hatte sie einige Akkorde notiert, war der Einfall plötzlich verschwunden. Bley: »Ich versuchte mich zu erinnern und sofort begann meine Arbeit an jenem Stück, das Lost Chords hieß.«
Seit verflixt sieben Jahren führt das Quartett mit Bley als Prima inter pares schon seine Ehe und ruft musikalisch abgelegte Gedanken wieder wach. Dazu gehört das Stück »Tropical Depression« das ursprünglich 1985 für die Mini-Oper »Under The Volcano« komponiert worden war. Bei der Hege und Pflege von Beatles-Songs wie »I Want You (She’s So Heavy)« hat man sogar Zuwachs bekommen. Es ist der italienische Trompeter Paolo Fresu, der mit seinem elegant leuchtenden oder intensiv lyrischen Ton wie geschaffen ist für die gar nicht nostalgisch mürbe, sondern hellwache Spurensuche von »The Lost Chords«.
Gastspiel: 26. April 2010, Stadtgarten Köln