Die Splitter des geborstenen Spiegels, der für die Einheit der Welt steht, bohren sich in unsere Herzen und Hirne und machen, dass wir nichts mehr einfach sehen und fühlen und der Kunst des Theaters nicht mehr treuherzig trauen. Gemäß diesem Teufelswerk funktioniert auch Castorfs Theater. Böse Kräfte – auch als technische Hilfsmittel – sind am Werk, nicht nur im Binnenraum der Märchen, die von dem Volksbühne-Intendanten quer gelesen und sogar ein bisschen »queer« (schwul) inszeniert werden. Andersens »Schatten« fällt ziemlich dunkel über diesen langen Abend. Des dänischen Dichters Welt und Ich zwischen Verdrängung und Enthemmung, Triebstau und Entladung, sexuellem Begehren, Liebesverbot und der Ökonomie der Beziehungen wird hier zum Tollhaus als letzter Konsequenz der Bürgerstube. Andersens Figuren (und er selbst als Tagebuchschreiber) sind bei Castorf Liebeskrüppel, Erniedrigte und Beleidigte – ähnlich seinen abgebauten Russen und Ossis. Die Märchen begegnen uns als Prater-Saga, Slapstick und Splatter, als energetischer Bewusstseinsstrom, Zitatenschatz und Motiv- Geschnipsel, das Leben und Werk bis zur Kenntlichkeit entfremdet, verspielt und austrickst. Das ist kalt, böse, grausam und ohne happy end. Und in der Wiederholungsschleife auch redundant. Eine durchgedrehte Welt, in der ein Sofa zum Schlund wird, Treppen Fallen stellen, ein Herz einen Galgen trägt, ein Seil nicht der Rettung dient, sondern Schlingen legt. Kay und Gerda (»Die Schneekönigin«) und die vielen anderen werden im offenen Vollzug kräftig neurotisiert. Castorfs Methode der Überspanntheit und Unterspannung und die obsessive Dollerei seiner agents provocateurs Herbert Fritsch, Volker Spengler, Alexander Scheer, Birgit Minichmayr und Jeanette Spassova brennt sich zu einem Bild: der Windmaschine, die während der drei Stunden oft volle Pulle ins Parkett bläst und mächtig Flocken aufwirbelt. Denen da oben geht die Puste nicht aus. Uns nimmt es den Atem. (8./9. 10.2005, Jahrhunderthalle Bochum) | AWI
Aufgestöbert
01. Okt.. 2005
Helmut Berger als Ludwig II. Foto: studio canal