TEXT: ULRICH DEUTER
Das Setting dieses Buchs, im Licht literarischer Erfahrung betrachtet, verspricht eine hohe Wahrscheinlichkeit des Scheiterns: Alternder Schriftsteller in bröckelnder Liebesbeziehung unterhält väterliche Bande zur kindlichen Tochter einer Nachbarsfamilie. Bringt dem struwwellockenköpfigen, einsam im Treppenhaus spielenden, oft so weltverlassen wirkenden und doch so erzählfreudigen Mädchen das Fahrradfahren bei. Rettet ihm gar, als es im Glück des eigenen Sausenkönnens mit einem Auto kollidiert, das Leben. So was verbindet, zumal es – wie sich zeigen wird – symbolisch aufgeladen ist. Die Freundschaft zwischen Mann und Mädchen intensiviert sich, als Madalyn, inzwischen 14, eine neue, noch schwerere Balance erlernen will: die Liebe. Wieder liegen rauschende Fahrt und schmerzhafter Sturz nah beieinander, kommt doch schon das erste Verlangen, ach, mit vollem Glück und vollem Leid. Der Moritz, den Madalyn will, ist eine ganz besondere und darum ganz unsichere Bank. Seine Wildheit, sein Außenseitertum – er knackte Automaten, er wurde bestraft, er wird betuschelt – macht ihn begehrenswert. Sein Wissen um diese Rolle aber lässt ihn mit der Unredlichkeit spielen: Moritz, der doch für Madalyn bestimmt zu sein scheint, betrügt Madalyn mit der »heiligen Schönheit« Claudia. Moritz erfindet Lügengeschichten: Er hat das tolle Gedicht, das Madalyn als einen Ruf der fremden Seele an sie selbst empfand, aus dem Internet geladen. Und das Supergraffitto auf einer Mauer am Donaukanal hat er in Wirklichkeit auch nicht gesprayt. Moritz schwört Liebe, Moritz beichtet, zerknirscht sich, verspricht. Was soll Madalyn ihm glauben?
Was sollen wir Madalyn glauben, was dem Buch? Des Glückes und des Schmerzes übervoll, drängt das Mädchen dem väterlichen Freund seine Geschichte auf – es ist jener Sebastian Lukasser, der Erzähler aus Michael Köhlmeiers das letzte Jahrhundert durchschreitendem, vielgelobten Roman »Abendland«. Aber der Schriftsteller hört nur widerwillig zu, ihm geht die süße Geschichte zu nah, zu weit, er will keine Wirklichkeit, er will schreiben. Umsonst. Unmerklich wechselt die Erzählung in einer weichen Blende die Perspektive, und wir erleben das Taumeln dieser beiden halben Kinder durch das ganze Land der Liebe und das Wien des Mariahilfer Bezirks aus großer Nähe und in zugleich gerade so viel reflektorischer Distanz, dass jugendliche Überschwänglichkeit und Unschuld, Bedingungslosigkeit und Selbstüberhöhung nie an das Kitschbewusstsein und Erfahrungswissen der Erwachsenen verraten werden. Ein Kunstgriff, ein Geniestreich, mit dessen Hilfe das Allerprätentiöseste gestaltet werden kann. Und dies auch noch in einer ganz unprätentiösen Sprache.
Das ist die eine Leistung dieser – Roman genannten – großartigen Erzählung. Die andere ist auch eine poetologische. »Madalyn« vermischt das Erzählte und das Erzählen, die Möglichkeit lebensweltlicher Wahrheit und die Tatsächlichkeit der (vorliegenden) Fiktion so leicht, so klug, so elegant, so unentwirrbar, dass das Lesen zu einem Vielklang staunenden Vergnügens wird. Moritz mag lügen. Aber Madalyn probt vor dem Spiegel Wirkungsposen. Aus dem Stegreif Geschichten über sich zu erfinden, fällt ihr leicht. Einmal geht der Erzähler den Spuren der Madalyn’schen Love Story nach – und erlebt eine bösen Fußtritt durch die Wirklichkeit. Einmal phantasiert Madalyn von einem Buch, in dem genau ihre Geschichte stünde und sie daher jeden Tag lesen könnte, wie es mit ihr weitergeht. So dass es am Ende wohl so ist: Dass das Buch, das Madalyns Liebes-Bericht Herrn Lukasser zu schreiben hinderte, eben das Buch »Madalyn« ist.
Michael Köhlmeier: »Madalyn«. Roman. Hanser Verlag, München 2010. 176 S., 17,90 Euro