Längst ist das erste KI-Smartphone auf dem Markt, während KI-Gesetze versuchen, die digitale Expansion in geregelte Bahnen zu lenken. Und die Kunst? Die macht zum Glück ungeachtet dessen weiter, was sie möchte. Dabei kommen neue Ansätze nicht von Pop-Größen und Major-Labels, sondern von unabhängigen Künstler*innen, die an der Grenze des Benennbaren agieren, ihre Musik live coden, chemische Prozesse in Klänge übersetzen oder Wasserbewegungen in Animationen verwandeln. Das »Blaue Rauschen« versammelt seit 2017 künstlerische Positionen, die die Symbiose zwischen Natur und Technik ausloten. Dabei geht es im Ruhrgebiet nicht um einen blinden Techno-Fetischismus oder darum, eine Dystopie der Zukunft zu malen. Es geht um die Möglichkeiten digitaler Kunst, Dinge erlebbar zu machen, die ohne sie nicht möglich wären.
Der Künstler Bioni Samp ist Künstler, Erfinder, Musiker – und Imker. Könnte bei anderen letztere Berufsbezeichnung nur ein Appendix eines Hobbys sein, so verbindet Samp in seiner Arbeit alle Berufe miteinander, indem er mit Aufnahmen aus seinen Bienenstöcken und einem sogenannten »Hive-Synthesizer« das fragile Ökosystem der Insekten zum Klingen bringt. Drohnen, Arbeiterinnen und die Bienenkönigin klingen alle in unterschiedlichen Frequenzen und werden zu Solist*innen in Samps Arbeit, die zwischen Drone, Ambient und Techno changiert.
Wie ein Wald klingt
Wie ein Wald klingt – auch das macht das Festival zum Thema: Für die Ausstellung »Wald und Klang« wurden zehn internationale Künstler*innen eingeladen, ein kurzes Stück zum Thema zu komponieren, das am 3. Juni im Kunsthaus Essen mit Fotografien kombiniert wird. Karl-Heinz Blomann, der künstlerische Leiter des Festivals, war beim Wandern auf die Idee gekommen: »Ich habe auf Reisen eigentlich immer Recording Equipment dabei. Bei einer Bergwanderung in der Schweiz an der Baumgrenze ist mir die Veränderung der auditiven Atmosphäre aufgefallen. Die Geräusche der Zivilisation rücken in die Ferne, der Klangraum öffnet sich.« Aber schon der Schriftsteller Rainald Goetz wusste: »Am wenigsten brauche ich die Natur. Ich wohne in der Stadt.« Sollte man es sich also lieber in der Industriekultur des Ruhrgebiets gemütlich machen, kann man auch gleich in die vollkommen digitale Audio- und Bilder-Flut des Festivals eintauchen.
Die Musikerin Tojiko Noriko komponiert Musik für Filme, Tanzperformances und Kunstinstallationen, ist selbst aber auch Filmemacherin. Zunächst veröffentlichte sie die Alben »Crépuscule I« und »Crépuscule II«, eine Mischung aus Ambient, Singer-Songwriter und ätherisch schwebenden Melodien. Mit dem Filmemacher Joji Koyama erweitert sie das Album nun um visuelle Komponenten – am 7. Juni soll im Saalbau Witten zu erleben sein, wie Musik und Bild zu einem hypnotischen Gesamtwerk verschmelzen. Auch das Projekt »Fausto Mercier« des Sound-Engineers Roland Nagy bietet Ekstase für Ohren und Augen. »Künstler*innen wie er experimentieren mit Klangsynthese und artifizieller Intelligenz, um neue Erlebnisse zu schaffen“, sagt Karl-Heinz Blomann. Dies werfe allerdings auch Fragen nach der Rolle von Künstlicher Intelligenz in der Musikproduktion und -performance auf, einschließlich ethischer Fragen und solcher, inwieweit KI als kreative Partnerin oder gar als eigenständige Kunstproduzentin betrachtet werden kann. Ob in der Natur oder Stadt, digital oder analog – festlegen kann und will sich das »Blaue Rauschen« jedoch nicht. Und erprobt dafür ein Stück Zukunft mit.
»Blaues Rauschen«
24. Mai bis 8. Juni
an verschiedenen Orten in Essen, Dortmund, Bochum, Gelsenkirchen, Herne und erstmals in Witten