// Ein Mann will sich finden, aber er geht verloren – sich selbst, seiner Ehefrau und der Welt. Ein anderer begibt sich am Polarkreis auf den Weg zu seinem Sohn. Ein dritter reizt seine politischen Überzeugungen aus bis zum Geht-nicht-Mehr: seinem Tod. Ein vierter, Schauspieler aus den Niederlanden, dreht im indischen Mumbai einen Film und begegnet abseits des Sets der Stadt, deren Realität in »Slumdog Millionär« mit dem schaumigen Finale eines Touristen-Pornos verfälscht wurde. Für die Obdachlosen am Rande der Parkanlagen von »Versailles« (Pierre Schoeller, Frankreich) – intensiv erzählt als Drama eines verwilderten Mannes und eines verlorenen kleinen Jungen, Damien und Enzo – bedeuten wiederum jeder Tag und jede Nacht das Risiko, dass es ein Morgen vielleicht nicht gibt.
Das Filmfestival Münster trägt – neben den Reihen Deutschsprachiger Kurzfilmwettbewerb mit 48 Beiträgen, einem Schwerpunkt Niederlande, Schulprogramm sowie Arbeiten aus oder über Münster – schon im dritten Jahr den mit 7.500 Euro Siegerprämie ausgestatteten europäischen Spielfilmwettbewerb aus. Die in Cannes, Berlin und anderswo getroffene Achter-Auswahl, die sich wieder sehen lassen kann, untersteht als Besonderheit einem Motto. 2009 heißt es »Risiko«. Auf Grund begrenzten Wissens über Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß wohnt dem Risiko die Unsicherheit inne, ob es mehr Gefahr oder mehr Chance bietet. Es setzt Willen zur Veränderung voraus, erfordert Mut, Dinge in Frage zu stellen, nicht zuletzt sich selbst, oder bedeutet schlicht, eine krude Alltäglichkeit zu überstehen. Es gibt keine Gewähr fürs Gelingen. Doch Scheitern will auch gelernt sein. »Try again. Fail again. Fail better« heißt es bei Beckett. Besser scheitern – ein Ansporn.
Einen Baum zu pflanzen ist nicht genug. Ein Haus zu haben und eine Frau auch nicht. Tomas Wauters, in Patrice Toyes Verlust-Studie der »Nowhere Man« (Belgien), fühlt sich als Niemand, schaut mit diffusem Gefühl auf sein Leben. Irgendwer anders, irgendwo anders sein – diese Chimäre verfestigt sich ihm zum Ziel. Er fingiert den eigenen Tod, rasiert den Bart ab, verschwindet –nach Afrika. Eine Insel, Meer, Palmen, eine Hängematte: fast ein Reklamebild. Aber das Eiland empfängt ihn nicht freundlich. Außer schwerer Arbeit erlebt er nichts. Jahre später kehrt Tomas zurück. Seine Frau sagt: »Du bist tot. Handle danach«, entdeckt jedoch den Reiz des Verbotenen mit ihm, da sie längst wieder verheiratet ist und sich den toten Ehemann nun als Liebhaber hält.
Rune Denstad Langlos norwegischer Film »North«, der beim New Yorker Tribeca-Festival den ersten Preis geholt hat und im Berlinale-Pa-norama lief, ist ein seltsames Roadmovie. Es erzählt von Jomar Henriksen, den es aus der Bahn des Lebens geworfen hat, und vom skandinavischen Winter. Jomar bricht auf, zündet die Häuser an, die ihm Obdach gewährten, als wolle er jede Möglichkeit der Rückkehr vernichten. Unterwegs zu seinem Sohn wird er schneeblind, trifft ein Mädchen und dessen Großmutter, einen homophoben Jüngling und einen alten Lappen. Einsamkeit scheint hier Grundbefindlichkeit zu sein und lässt sich nur mit Alkohol betäuben, dessen Konsum etwas Rituelles anhaftet. Wir kennen das von Kaurismäki. Langlos Stil ist zwar ebenso lakonisch, aber trotzdem ganz anders, als der des Finnen.
»Hunger« von Steve McQueen ist genau so hart, wie der Name des Regisseurs klingt, bei dem man an den gleichnamigen Hollywood-Star von »Papillon« oder »Getaway« denkt, mit dem der britische Künstler und Turner-Preisträger aber nichts zu tun hat. Nordirland, 1981. IRA-Häftlinge kämpfen um ihre Anerkennung als politische Gefangene – mit drastischen Mitteln. Sie treten in den Hungerstreik, waschen sich nicht, besudeln die Zellen mit ihren Exkrementen. Eremiten der Gewalt und Opfer der Gegengewalt. Einer von ihnen ist Bobby Sands, er wird auch der erste Tote sein. Die Bilanz der Revolte gegen die britische Macht lautet: zehn tote Gefangene und 18 Wärter, die von der irischen Terror-Organisation zur Vergeltung »exekutiert« werden. »Hunger« ist ein schreiendes Stillleben: extrem physisches Kino, ein Mahnmal der Conditio humana. Der Körper, Qual und (Selbst-)Vernichtung – von der grandiosen Kamera mikroskopisch genau erforscht – behaupten sich im Zentrum eines Films, der sich weder sozial noch ideologisch noch nach moralischen Kategorien von richtig oder falsch fassen lässt (außer in der 17-minütigen Plansequenz zwischen Sands und einem katholischen Priester). Ihre Zigaretten drehen sich die Häftlinge mit dem dünnen Papier der Bibel: »Wir rauchen nur die Klagelieder«, sagt einer von ihnen. //
7. bis 11. Oktober 2009; www.filmfestival.muenster.de