Archivare sind hutzlige Männlein, die lemurenhaft und weltabgeschieden in dunklen Kellern zwischen muffigen Akten hocken und auf Störungen sowie Licht und frische Luft höchst irritiert reagieren. Teilen wollen sie ihre spröden Schätze mit niemandem: »Natürlicher Feind des Archivs ist der Benutzer.« Verlassen sie mal ihr Habitat, so sind sie stets von einer Aktenstaubwolke umgeben wie Pig Pen bei den Peanuts. Ein Klischee, sicher, aber wenn man Archivaren glauben darf, so haftet es an ihnen, zäher als Papierleim und hartnäckiger als amtliche Tinte. Deshalb gibt es am 6. und 7. Mai den »Tag der Archive«,zu dem bundesweit mehrere hundert Archive sich präsentieren und dem bösen Image positive Tatsachen entgegenstellen wollen: »Richtig ist vielmehr …«
… dass die meisten Archive sehr wohl die Öffentlichkeit suchen und brauchen, dass sie sich überdies als Dienstleister verstehen und Besucher durchaus nicht fürchten – sagt zum Beispiel Prof. Dr. Clemens von Looz-Corswarem, Leiter des Düsseldorfer Stadtarchivs. Dabei gehe es ums Nehmen wie ums Geben. Unterm Stichwort »Nehmen« steht das Interesse der Archivare an noch mehr Archivalien – interessanten Archivalien. Zu häufig, so von Looz, gingen wertvolle Dinge auf den Müll und damit verloren, wenn der Haushalt eines Verstorbenen aufgelöst wird oder der Aktenbestand eines alten Vereins, eines dahingegangenen Unternehmens.
Ein paar Jahre ist es her, da kriegte von Looz einen Anruf, kurz vor Weihnachten: »Mer sin hier grad am Opräumen«, sagte eine Stimme, und da sei noch so Papierkram … »Wo sind Sie?«, fragte von Looz nur und fuhr stracks zum Sitz einer eingegangenen, alteingesessenen Maschinenfabrik. Trotzdem war er eigentlich zu spät; das meiste Material war längst vernichtet. »Da geht Geschichte verloren«, sagt der Archivleiter, und deshalb wirbt er um mehr Verständnis bei den Beteiligten – auch dann, wenn alte Firmen aufgekauft und fortan von irgendwo anders her geleitet werden. Auch einige Ämter übrigens ließen alte Akten gedankenlos abtransportieren und vergäßen darüber ihre Pflicht, das Material anzubieten. »Wir müssen immer wieder mal sagen: Ihr dürft das nicht wegwerfen. Paradoxerweise ist es gerade der Archivar, der da in die Zukunft denkt.«
Bei Privatnachlässen sei zwar das Interesse an Tante Käthe und ihren persönlichen Dingen eher gering – eigentlich. Aber es gebe immer die Chance, dass im Privaten auch allgemein Interessierendes stecke. Zum Beispiel bei den Fotos im Nachlass eines Düsseldorfers: Frau Meier hier im Urlaub, Frau Meier da am Palmenstrand – alles uninteressant. Aber dann: Frau Meier mit dem »Ulanen-Denkmal«, samt der Inschrift mit einem vielen alten Düsseldorfern bekannten patriotischen Spruch. Von dem hatte es bis dato nirgends ein Foto gegeben. So kann der zufällige Hintergrund auf Tante Käthe-Fotos historisch höchst interessant sein.
»Wir wollen die Menschen aber auch ermuntern, die Archive zu nutzen«, sagt Thilo Bauer vom Archivarenverband »VdA«, der den »Tag der Archive« jetzt zum dritten Mal ausgerufen hat. Das Angebot gelte für Wissenschaftler, Forscher, aber auch für Privatleute, sofern ihre Neugier halbwegs gut begründet sei. Besonders Stadt- und Kirchenarchive stießen auf wachsendes Interesse, sagt Bauer, weil die Menschen sich in all der verwirrenden Globalisierung gern der engeren Heimat und Herkunft versichern. Obendrein gibt es viele Menschen, die ihren Lebensweg durch die Kriegswirren rekonstruieren müssen, um Renten oder Entschädigungen zu beantragen – so zum Beispiel ehemalige Zwangsarbeiter.
Zwischen »Geben« und »Nehmen« liegt gewissermaßen die eigentliche Archivarbeit: Neues Material muss gesichtet und ausgewählt, muss so aufbereitet, erschlossen und aufbewahrt werden, dass es vor Verfall bewahrt ist und man auch später damit arbeiten kann. Das älteste Stück im Düsseldorfer Stadtarchiv ist übrigens eine Schenkungsurkunde aus dem Jahr 1382; auf so etwas sind Archivare immer besonders stolz, sagt von Looz und zeigt die Urkunde denn auch in ihrer Kunststoff-Folie. Aber solche Preziosen machten allenfalls drei Prozent der typischen Archiv-Arbeit aus, sagt er. Und besonders viel Arbeit bereiten zurzeit relativ junge Akten: solche nämlich, die schon auf industriell fabriziertem, säurehaltigen Papier erstellt wurden, das sich jetzt rasch in Nichts aufzulösen beginnt. Landesweit werden solche Archivalien in einer großen Rettungsaktion durch Entsäuerungsbäder gezogen – so auch in Düsseldorf. Die Kosten dafür, sagt der Chef des Stadtarchivs, seien weit höher als zunächst geschätzt: Man hatte vergessen, dass typische Kanzlei-Aktenbündel zum Beispiel nicht als ganzes ins Bad gelegt werden können, sondern erst aufgefädelt, dann Blatt für Blatt entsäuert und wieder zusammengesetzt werden müssen. Immerhin wissen Archivare in NRW den Kultur-Staatssekretär Grosse-Brockhoff auf ihrer Seite, der die sauren Akten zu seinem Thema gemacht hat.
Wenig Hilfe bringt, was auf den ersten Blick wie die Patentlösung aller Archivprobleme aussehen mag: die Digitalisierung. Gewiss, man kann auch Aktenbündel unter den Scanner legen und anschließend die deutsche Schreibschrift eines Ratsprotokolls am Computerbildschirm zu entziffern versuchen. Nur – gesichert ist die Urkunde damit keineswegs. Jeder PC-Besitzer weiß, dass bei massenhaft elektronisch gespeicherten Daten sehr schnell der Überblick schwindet und die Zugriffsmöglichkeit leidet. Vor allem aber veralten Hard- wie Software in einer Geschwindigkeit, die mit dem Wesen eines Archivs nicht zu vereinbaren ist. Vor gar nicht so langer Zeit noch hat eine Empfehlung gelautet, Archivmaterial auf 3,5 Zoll-Disketten zu sichern – aus heutiger Sicht ein grotesker Einfall.
Die Welle rollt; »die Büroprogramme kommen in der Verwaltung jetzt überall massiv zum Einsatz«, sagt von Looz. Selbst Grundbucheintragungen gibt es schon in digitalisierter Form und müssen von Amts wegen über lange Zeit unverändert aufgehoben werden. Solche Datensätze werden dann in »Migrationen« von einem System ins nächste, neuere übertragen. Eine Dauerlösung ist das nicht. »Es gibt da noch kein Patentrezept«, sagt der Leiter des Düsseldorfer Stadtarchivs, und deshalb werde Digitalisierung in seinem Haus noch nicht zur Sicherung von Archivalien betrieben, sondern nur, um Besuchern die Benutzung zu ermöglichen.
Dass Archivare ihre Dienstleistungen hervorkehren und an einem »staubfreien« Image arbeiten, richtet sich auch an Politik und Verwaltung, von denen Archive Geld und Ausstattung für ihre Arbeit benötigen. Da kann eine falsche Vorstellung vom Charakter der Archivarbeit fatale Folgen haben. So macht sich der Leiter des Düsseldorfer Stadtarchivs trotz insgesamt ordentlicher Ausstattung Sorgen, weil das Archiv aus einem alten Lagerhaus am Rande der Stadt in die Innenstadt umziehen soll. Das neue Domizil, so fürchtet von Looz, könnte womöglich zu wenig Räume mit Tageslicht bieten, in denen Archivare arbeiten und Besucher angemessen betreut werden können – am Ende Folge jener Klischeevorstellung, dass große fensterlose Keller als Lagerraum alles seien, was Archivare begehren. Von Looz hofft, dass bei der Umbauplanung die Rolle des Archivs als Dienstleistungsunternehmen noch ausreichend berücksichtigt wird.
Am letzten »Tag der Achive« 2004 waren 380 teilnehmende Archive beim VdA registriert; insgesamt hätten sich wohl an die 600 städtische, staatliche, kirchliche und privatwirtschaftliche Archive präsentiert, schätzt VdA-Mann Bauer. Die Liste der für den 6. und 7. Mai 2006 registrierten Teilnehmer ist unter www.tagderarchive. de abzufragen. Die Veranstalter rechnen aber damit, dass sich wiederum zahlreiche weitere Archive der Aktion anschließen. In Düsseldorf übrigens findet die wegen einer konkurrierenden Veranstaltung schon am 5. und 6. Mai statt; sie wird geadelt durch einen Vortrag des Kulturstaatssekretärs Grosse-Brockhoff über »Archive als Gedächtnis der Menschheit«. Nähere Informationen unter www.geschichte-induesseldorf. de. Grundsätzlich gilt: Ausrüstung mit staubabweisender Kleidung und Atemschutzgeräten ist beim Besuch der Archive nicht erforderlich.