Nicht vermittelbar
»Arlette –Mut ist ein Muskel« von Florian Hoffmann (CH/D 2015)
Ein schreiendes Mädchen, gequält von einer eitrigen Knieverletzung, verursacht durch kongolesische Rebellen. Die 15-jährige Arlette Wali-Kette kann von Zentralafrika nach Berlin reisen, um sich in der Charité operieren zu lassen. Auch dies ein Abschied – von der Familie, vom Vertrauten, aber doch Hoffnung verheißend. Anfangs ist sie scheu. Wir schauen in ihre furchtsamen und argwöhnischen Augen, die vermutlich Schreckliches gesehen haben. Sie verbirgt sich unter ihrer Jacke, als die Ärzte hereinkommen. Zum ersten Mal Schnee, das Gefühl der Kälte, wenn sie ihre Hand aus dem Fenster streckt. Sie fremdelt. Seziert ihre Butterbrote. Aber irgendwann tanzt sie breit lachend zu afrikanischer Musik aus dem Internet und skypt mit der Mutter. Nüchtern wird ihr Aufenthalt reportiert mit Behandlung und Reha, wissend, dass sich die medizinischen Maßnahmen in Afrika kaum fortsetzen lassen. Aber es kommt schlimmer. In der Hauptstadt Bangui bricht Krieg aus: »Bleib, wo du bist! Du hast hier keine Zukunft.« Wohin mit Arlette? »Nicht vermittelbar«, sagt die Behördensprache. Dann fliegt sie doch heim. Einige Fotos erreichen noch den Filmemacher: Dann wird Arlettes Kamera entwendet und zerstört.
Und es kommen Menschen
»Siamo Italiani« von Alexander J. Seiler (CH 1964)
500.000 Italiener lebten und arbeiteten vor 50 Jahren in der Schweiz: »als Problem werden sie diskutiert – als Menschen bleiben sie Unbekannte«, heißt es in dem bemerkenswerten Dokument im harten Schwarzweiß des Neorealismus. Der Film von 1964 sieht aus wie Viscontis wenig früher entstandener »Rocco«. Männer passieren den Grenzbahnhof, werden auf Krankheiten untersucht, verrichten Schwerstarbeit, schlagen die Zeit tot oder verbringen sie auf Ämtern, suchen Abwechslung auf der Kirmes, in Kneipen oder im Strip-Lokal, hausen in elenden Unterkünften (»Sind wir denn Hunde?«, fragt einer), weil ihnen Wohnungen kaum vermietet werden. Wie unter Kontaktsperre. »Katzelmacher«-Stoff. Herren die einen – bornierte, vorurteilsvolle, engherzige Einheimische, Knechte und Mägde für einige Saisons die anderen, denen zunächst nicht erlaubt ist, ihre Familien mitzubringen. »Siamo Italiani« rüttelte damals auf. Das kann es auch heute noch. Nach einem Messe-Besuch sagt jemand, im Evangelium heiße es: »Jesus weint über sein Land.«
Familienalbum
»Iraqi Odyssee« von Samir (CH 2014)
Die Weltkugel dreht sich für die Zerstreuten: Moskau, London, Lausanne, Buffalo, Auckland. Die verzweigte Familie des 1955 geborenen, in der Schweiz heimisch gewordenen Samir lebt in Bagdad und anderswo. Vier Millionen Iraker sind im Ausland. Aufnahmen zeigen neben ikonografisch gewordenen historischen Szenen die Sippe mit Eltern, Geschwistern, Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen. Der Familienroman ab origines des frühen 20. Jahrhunderts in Bildern und Interviews korrespondiert als Narrativ mit der Geschichte des Iraks: vom türkischen Sultanat, von Briten, Kommunismus, Baath-Partie, Revolution und Konterrevolution, nationaler Befreiung, Diktatur, Saddams Sturz, Kriegen, Anarchie. Der Regisseur sagt: »Wir brauchen eine Legende, beginnend mit einem Traum, aus dem sich eine Theorie, eine Hypothese, eine Tat, eine Revolution entwickeln.« Aufbruch zur Veränderung.
Notrufe
»Lampedusa im Winter« von Jakob Brossmann (AT/IT/CH 2015)
Nochmals auf See. 23.00 Menschen, sagt die Internationale Organisation für Migration, ließen seit dem Jahr 2000 ihr Leben auf dem Weg nach Europa. Die kleine Insel Lampedusa liegt 110 Kilometer entfernt von Nordafrikas Küste. Schroff ragen die Klippen, als sei man im Norden statt im Mittelmeer. Gespenstische Szenen: gestrandete Boote, Überbleibsel, Objekte und Hinweise auf die Insassen, Notizen, nasses Papier, Babynahrung. Hilferufe der überforderten Behörden angesichts der »Invasion«. Wie sich selbst und dem anderen helfen? Die Fähre wurde durch ein Feuer zerstört. Die Fischer können ihren Fang nicht ausliefern. Sie haben ihre eigenen Probleme. Die Unterkünfte für die in Decken gehüllten frierenden Immigranten erinnern an ein Leichenschauhaus. Einige Flüchtlinge wurden bestattet auf dem Friedhof von Lampedusa. Der Philosoph Helmuth Plessner schrieb 1934 aus seinem Exil in Holland, es sei sehr kalt, »wo doch gerade Emigranten so viel Wärme brauchen«. Am Hafen wacht das steinerne Denkmal der Jungfrau Maria. In der Kirche ist eine Krippe in Form eines Flüchtlingsboots aufgebaut: »Denn es war kein Raum in der Herberge.« Am Ende kommen neue Boote an.
Das Meer in mir
»Was die Gezeiten mit sich bringen« von Josefina Gill (D 2015)
Unterwegs auf dem Meer, dem Element des Ungewissen. Das Wasser gleißt. Endlos dehnt doch der Ozean, bei Nacht, bei Tag. Dazu das Stampfen der Schiffsmaschinen. Fremde Landschaften schweifen vorüber. Wälder am Ufer dehnen sich grün, Hochhäuser säumen das Ufer. Eine Argentinierin aus Hamburg berichtet von ihren Wurzeln, die in der Generation der 1937 ins Exil geflüchteten Urgroßeltern deutsch-jüdisch waren. Und berichtet von ihrer Reise nach Buenos Aires und der Rückkehr nach »Zuhause«. Es ist keine dokumentarische Spurensuche, sondern eine essayistisch visuelle Fantasie, die das Familien-Gefühl von Emigration, Heimatlosigkeit und Vereinsamung im Kamera-Tagebuch beschreibt.
Stiefmutter Erde
»De Corpore Mortis« von Rudolf Domke (D 2015)
Eine andere, doch ebenfalls fatale und fatalistische Fluchtbewegung. Auch so können Träume enden – man will fast denken an Peter Weirs und Paul Theroux’ »Mosquito Coast« mit einem herrischen Harrison Ford als zivilisationsmüdem Amerikaner, dessen Enthusiasmus im mittelamerikanischen Urwald in Hyperaktivität, Lethargie und Tyrannis umschlägt. Russischstämmige Deutsche hat es in eine entlegene Kolonie in Paraguay verschlagen, angelockt von Propaganda und Heilsversprechen. Die Bibel haben sie bei sich. Der Gründer der Enklave sitzt schon im Gefängnis, das Geld ist futsch, die Vision allgemeiner Ernüchterung gewichen. Angekommen in einem Provisorium zwischen Macadamia-Plantagen, holprigen Straßen und einer nahezu verlassenen Verwaltung, sind es Pioniere auf verlorenem Posten. Misstrauen und Feindseligkeit zermürbt sie. Scheinbar teilnahmslos blickt die Kamera über das öde, an Nährstoffen arme Land und das emsige Tun der Bewohner hinweg. Anfangs war es anders: Da habe das Leben gesprudelt »wie eine Quelle«, sagt eine Lehrerin. Man hätte Perspektiven gehabt. Das war einmal. Endspiel im Niemandsland. Ein Gesellschaftszerfall.
2. bis 8. November 2015, Duisburg, Filmforum am Dellplatz, www.duisburger-filmwoche.de