»Nulla dies sine linea«. Ein kleiner unscheinbarer Schriftzug zwischen den Zeilen. Just unter die Werknummer 365 des Jahres 1938 notierte Paul Klee das Plinius-Zitat in sein handgeschriebenes Werkverzeichnis. »Kein Tag ohne Linie«: Der Künstler meinte selbst verständlich die gezeichnete von Anfang an war sie wesentlich für ihn. Er nutzte die Zeichnung, um sich künstlerisch zu orientieren, um Ideen zu fixieren, um sich gestalterisch zu verwirklichen.
Gerade gezogen oder rhythmisch geschwungen bewegen sich die Bleistift- und Tuschestriche auf und ab, kreuz und quer über Zettel, Fetzen, Briefbögen, Packpapier. Klee kritzelte, konstruierte, experi mentierte, erschuf gar Geheimschriften.
In Nordrhein-Westfalen ist Klee als Zeichner jetzt gleich doppelt präsent. Das Max-Ernst-Museum in Brühl zeigt, mit Blick auf den Hausherrn, Klees zeichnerisches Frühwerk. Und gleichzeitig finden sich im Museum Ludwig rund 200 Blätter aus den letzten drei, zeich nerisch ungemein produktiven Lebensjahren des gebürtigen Schwei zers ausgebreitet Köln übernimmt diese Schau vom Zentrum Paul Klee in Bern, wo sie zur Eröffnung im Sommer 2005 gezeigt worden war.
Auch Brühl verdankt viele Leihgaben dem jungen Institut in der Nähe von Klees Geburtsort Münchenbuchsee. Diese Großzügigkeit ist nicht selbstverständlich. Zumal das Zentrum in dem höchst eigenwilligen Museumsgebäude sich kaum retten kann vor Leihgesuchen internationaler Häuser. Man müsse eine gründliche Auslese treffen, sagt Michael Baumgartner als Kurator in Bern. Das Brühler Projekt habe überzeugt, weil es Klee erstmals Seite an Seite mit dem großen Kollegen Max Ernst zeigt.
Für Achim Sommer, der das Max-Ernst-Museum seit Mai leitet, ist es die erste Ausstellung für Brühl. Und gleichzeitig ein Lichtblick in ziemlich turbulenten Zeiten. Mutmaßliche Baumängel und eine um Monate verschobene Eröffnung, so begann vor gut einem Jahr die Geschichte des Max-Ernst-Museums. Nicht zu vergessen die fristlose Entlassung der ersten Direktorin – der Rechtsstreit mit Bettina Mette ist noch im Gange.
Aktuell nun geht es um eine neue »organisatorische Hülle« für das Haus. Weil seine finanzielle Ausstattung hinten und vorn nicht reicht, will der Landschaftsverband Rheinland die Trägerschaft übernehmen. Darüber verhandeln zurzeit die Stiftungspartner, die das Museum bisher als GmbH betreiben: Neben dem Landschaftsverband sitzen die Stadt Brühl und die Kreissparkasse Köln am Tisch.
Trotz aller Schwierigkeiten aber verbucht das junge Institut beachtliche Publikumserfolge – bis zu seinem ersten Geburtstag im September 2006 kamen immerhin um die 100.000 Besucher. Doch Sommer weiß: »Ein neues Museum ist für die erste Zeit ein Selbstläufer.« Zumal das Brühler mit seiner bemerkenswerten Architektur und Max Ernst als prominenter Hauptperson. Irgendwann reiche das aber nicht mehr aus, um Aufmerksamkeit zu wecken. Wichtige Wechselausstellungen müssten her, um das Geschehen in Bewegung und das Museum attraktiv zu halten.
Mit der Klee-Schau nun setzt Sommer Maßstäbe. Sie soll nur der Anfang sein in einer Reihe von Ausstellungen, die während der kommenden Jahre unter dem Motto »auf Augenhöhe« Begegnungen zwischen Max Ernst und Künstlergrößen von der Klassischen Moderne bis zur Gegenwart initiieren will. Es geht um »Schnittstellen«, »Verklammerungen« und »Spiegelungen«. Im Miteinander von Ernst und Klee sind die Verbindungen künstlerischer wie biografischer Natur. Man ahnt eine Seelenverwandtschaft: Beide Künstler suchten nach eigenen Wegen abseits der zeitgenössischen Avantgarden. Sie gingen in ihren Arbeiten weit über das Anschauliche hinaus, drangen vor in poetische, surreale Welten, spielten mit Gleichnishaftem und Unerklärlichem. Für beide wurden Kinderzeichnungen wichtig. Poesie und Skepsis verbinden sich in ihren Bildern mit Ironie, die bei Klee wie Ernst nicht zuletzt in anspielungsreichen Werktiteln Ausdruck findet.
Ernst schätzte den 1879 geborenen und damit zwölf Jahre älteren Kollegen. »Beim Zusammensein mit Max Ernst war regelmäßig von Klee die Rede«, so erinnert sich Werner Spies; der weltweit wohl beste Ernst-Kenner sitzt dem Stifterrat des Museums vor und hatte auch die Idee zur Klee-Schau. Rund 90 Arbeiten sind dazu im Untergeschoss des Brühler Hauses versammelt, hinzu kommen wenige Fotos, Briefe, Kataloge.
Hier und da hätte man sich eine direkte Begegnung, ein anschauliches Nebeneinander oder Gegenüber von Ernst und Klee gewünscht. Darauf verzichtet die Schau leider. Wer Berührungspunkte und Gegensätze im Werk der Jahrhundertkünstler sucht, muss sich nach oben in die ständige Ernst-Ausstellung begeben und sie dort ohne Hilfestellung aufspüren.
Der Raum für Wechselausstellungen bleibt für Klee allein reserviert. Ernst ist hier nur in den Wandtexten präsent, die auf biografische Verbindungen eingehen, damit sozusagen die greifbare Grundlage für das Zweiertreffen liefern und auch die Gliederung des Ausstellungsrundgangs bestimmen.
Maßgeblich sind in Brühl drei konkrete Bezugspunkte. Der erste fällt ins Jahr 1912, als Ernst das Werk des damals noch wenig bekannten Kollegen im breiten Überblick bei einer Einzelausstellung in Köln bewundern konnte. Das Max-Ernst-Museum zeigt 30 der insgesamt 64 Stücke, die damals im Gereonsklub zu sehen waren – einem »wirk-lichen Brennpunkt künstlerischen Interesses am Rhein«, wie Franz Marc seinerzeit bemerkte.
Max Ernst war bei dieser ersten ernsthaften Begegnung 21 Jahre alt und eben erst fest entschlossen, Maler zu werden. Klee, damals 33, zeigte sich ein ganzes Stück weiter – er hatte den Durchbruch zu gestalterischer Eigenständigkeit geschafft. Offenkundig wird sie etwa in seinen Bildern zu Voltaires »Candide«. Brühl kann Beispiele aus der Folge zeigen: Es sind Zeichnungen, wie man sie bis dahin nicht gesehen hatte. Das Ding, die Realität, der Gegenstand zählen nicht mehr. Das Sagen haben die aus krakeligen Strichen geformten Figuren mit viel zu kleinen Köpfen. Es sind feingliedrige, vergeistigte Wesen, denen die körperliche Substanz abhanden gekommen scheint, die allein durch Gesten und Gebärden wirken.
Sieben Jahre nach dem Ereignis im Gereonsklub lernte Ernst den Schöpfer dieser Zeichnungen persönlich kennen. 1919 ist darum das zweite wesentliche Datum und der eigentliche Aufhänger für die Brühler Schau. Auf der Rückreise aus dem Urlaub am Königssee machte Ernst im September halt in München und schaute bei Klee im Atelier vorbei. Überaus freundlich sei ihm der Kollege dort begegnet. Ernst erzählte Werner Spies später auch, dass Klee ihn eine Reihe von Arbeiten habe aussuchen lassen. »In Commission zu Ausstellungszwecken« nahm er 29 Zeichnungen und fünf Aquarelle mit nach Köln.
Dieses Konvolut veranschaulicht seine Sicht auf Klee in besonderer Weise. Elf der damals ausgewählten Arbeiten hat das Max-Ernst-Museum für seine Klee-Ausstellung zusammenbekommen: Auffällig scheint dabei Ernsts Interesse an den Tierzeichnungen von Klee. Brühl zeigt etwa eine Gruppe von abstrahierten, ganz auf die Linie reduzierten Stieren. Außerdem tauchen in Klees Bildern wiederholt Vögel und Fische auf – beides Geschöpfe, die auch in Ernsts Schaffen tragende Rollen übernehmen.
Für den jungen Rheinländer wird der Zwischenstopp in Süddeutschland zum Schlüsselerlebnis – nicht nur wegen des Besuchs bei Klee. Auch die Entdeckung einiger Reproduktionen von Werken Giorgio de Chiricos in einer Münchner Buchhandlung bewegte ihn zum entscheidenden Schritt hinaus aus der Experimentierphase im Umkreis der rheinischen Expressionisten hin zum Mitbegründer der Kölner Dada-Gruppe. Wenige Jahre später, 1922, verließ Ernst seine Heimat, es zog ihn ins damalige Kunstmekka Paris, wo er bald zu einem der bedeutendsten Vertreter des Surrealismus wurde. Auch in Klees Leben und Werk finden sich Berührungspunkte zu diesem Zirkel. Die Ausstellung lässt dies in einigen Werkbeispielen aus den Jahren um 1920 anklingen. »Ich suche einen entlegeneren, schöpfungsursprünglicheren Punkt, wo ich eine Art Formel ahne für Tier, Pflanze, Mensch, Erde, Feuer, Wasser, Luft und alle kreisenden Kräfte zugleich«, hatte Klee schon 1916 in sein Tagebuch notiert und war damit den Jahre später vom surrealistischen Wortführer André Breton im »Manifeste du surréalisme« dargelegten Gedanken sehr nahe gekommen.
Mitte der 20er Jahre endet Klees Gastspiel im Max-Ernst- Museum. Die Fahrt ins nahe Köln kommt einem Sprung über ein gutes Jahrzehnt gleich. Das Museum Ludwig lässt den Besucher dort gegen Ende der 30er Jahre landen und tief eintauchen in den späten Schaffensrausch des schwer kranken Künstlers Paul Klee. »Er hat wieder eine seiner ganz starken Epochen«, schrieb seine Frau Lily 1937. »Er sitzt abends bis elf Uhr, und Blatt für Blatt fällt zu Boden wie einst. Seltsam! Dabei ist er noch immer nicht ganz gesund.« In der Folge wird Klee die »Production« sogar noch steigern: 1200 Arbeiten zählte der Meister im Jahr 1939 – »Eine Recordleistung«.
Trotz dieser Masse verzichtete Klee kaum je einmal auf die penible Archivierung und Katalogisierung seiner Zeichnungen. So gut wie jedes Blatt wurde signiert, auf Karton geklebt, mit Titel und verschlüsselter Nummer versehen, dann sorgfältig ins Œuvreverzeichnis eingetragen. In Serien zusammengefasst, finden sich unterschiedliche Themen angedeutet: Erinnerungen, Beobachtungen, Annäherungen, das Trauma von Krankheit und Tod sind verbildlicht, religiöse oder philosophische Gedanken kommen zum Ausdruck.
Die Kölner Schau zeigt einfache, lineare Gebilde, kindlich-primitiv gezeichnete Masken und zersprengte Figuren, deren durch schlichte Konturen bezeichnete Einzelteile im Raum umherschweben. Sie zeigt spontan skizzierte Gesichter, Strichwesen und Köpfe mit großen runden Augen, die, über das Blatt wandernd, Halt und Orientierung suchen.
Daneben sind starkfarbige Arbeiten auf Papier zu sehen, in denen wild und expressiv extreme Gefühlslagen aufleuchten. Das »Hungrige Mädchen« schaut aus wie ein Monster mit seinem blauen Kopf, dem geöffneten Mund und den großen weißen Beißern. Auch stellt der Künstler in dieser Zeit informelle Experimente an. So bringt er etwa mit rhythmischen Pinselstrichen dunkle Kleisterfarbe aufs Papier und lässt dabei schuppenartige Strukturen entstehen. Sehr schnell wird in Köln klar, dass es bei den späten Zeichnungen kaum darum ging, vollendete Kunstwerke zu schaffen. Vielmehr suchte Klee offenbar den
ständigen Dialog mit sich selbst – er arbeitete jetzt vor allem für sich, nicht für die anderen. Nie zuvor haben in seiner Kunst persönliche Gefühle und Befindlichkeiten eine so wichtige Rolle gespielt.
Das fortwährende Zeichnen kam dabei dem Führen eines Tagebuchs gleich, und die bildnerischen Ergebnisse haben etwas von Psychogrammen. Der Künstler beschrieb sie einmal als »Geheimzeichen«, die er in ekstatischer Gestik zu Papier bringe. Er fühle sich dabei, als würde er die Pauke schlagen.
Es drängte ihn, das Tempo stieg. »Ich komme diesen Kindern nicht mehr ganz nach«, schrieb er 1939. »Sie entspringen.« Im Jahr darauf skizzierte er in kräftigem Rot einen verzweifelt Rudernden und ganz in dunkles Grün, Grau und Braun getaucht, die »finstere Bootsfahrt«. Am 29. Juni 1940 erlitt er eine Herzlähmung und starb in einer Klinik in Locarno.
»In Augenhöhe: Paul Klee«; Max-Ernst-Museum, Brühl; bis 4. März; Tel.: 01805/743465;
www.max-ernst-museum.de
»Paul Klee. Kein Tag ohne Linie«; Museum Ludwig, Köln; bis 4. März; Tel.: 0221/221-26165;
www.museum-ludwig.de