Genickstarre drohte demjenigen, der sich letztes Jahr auf der Guggenheim-Ausstellung in Bonn einen Eindruck von Matthew Barneys »Cremaster«-Zyklus verschaffen wollte. Die fünf Teile seines filmischen Opus magnum liefen auf kleinen Fernsehbildschirmen, die kreisförmig unter der Decke angebracht waren. Von den ungefähr 400 Filmminuten dürften die meisten Zuschauer vermutlich gerade einmal ein Hundertstel gesehen haben.
Die White Cubes der Kunstausstellungen bieten alles andere als optimale Bedingungen für die Präsentation von Filmen. Fehlende Sitzmöglichkeiten, schlechte Projektionen, ständiges Kommen und Gehen und mangelnde Bereitschaft der Besucher, länger als etwa vor einem Gemälde zu verweilen, erschweren eine profundere Auseinandersetzung mit den präsentierten Werken. Arbeiten, die die Bedingungen des Kinos selber reflektieren, können in Galerien oder Museen erst gar nicht gezeigt werden, ohne an Bedeutung zu verlieren. Auf der anderen Seite verhindern die ökonomischen Zwänge des »normalen« Kinobetriebs, dass experimentierfreudigere Werke eine Chance auf der großen Leinwand bekämen. Die Black Box bleibt den Künstlern gewöhnlich verschlossen.
In zehn Programmen beleuchten die diesjährigen Kurzfilmtage Oberhausen die problembeladene Beziehung von Kino und Museum. Es bietet sich Gelegenheit, neu über
die Reaktion beider Institutionen auf Künstlerfilme nachzudenken. Die Hälfte der Programme hat Ian White zusammengestellt, für die anderen hat der Filmkurator der Londoner Whitechapel Art Gallery fünf Künstler und Kuratoren eingeladen, ihr persönliches »Kinomuseum« auszuwählen: Achim Borchardt-Hume von der Londoner Tate Modern, die Künstlerin Mary Kelly aus Los Angeles, ihren Londoner Kollegen Mark Leckey sowie ihren New Yorker AA Bronson und Emily Pethik, Leiterin des Utrechter Casco Projects.
Ian White führt in mehreren seiner Programme zurück zu den Anfängen der Beziehung zwischen Museen und dem noch jungen Medium Film. Noch bevor 1935 mit der Gründung der Film Library des Museum of Modern Art in New York Filme auch als Sammlungsgegenstand anerkannt wurden, nutzten Museen bereits das populäre Medium als Mittel zur Volksbildung und um ihre Häuser einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Bereits 1927 entstand der erstaunliche Dokumentarfilm »The School Service at the American Museum of Natural History«, der die Bildungsarbeit des Naturkundemuseums von New York darstellt. Die Kamera folgt den Mitarbeitern, die mit Filmdosen und ausgestopften Tieren im Gepäck in die Schulen der Stadtteile fahren, um den Biologieunterricht der Großstadtkinder anschaulicher zu gestalten. Dabei achtet der Film darauf, zu zeigen, dass wirklich alle sozialen Schichten bedacht werden: Auch in einer heruntergekommenen Gegend mit hohem Anteil Afroamerikanern machen die Männer vom Museum halt.
Aus der Filmproduktion des New Yorker Metropolitan Museum of Art stammt ein Film von 1935, der einen Gang durch den »American Wing« des Gebäudes am Central Park unternimmt. Zwischentitel erklären den Aufbau der Kollektion und machen, nach Epochen gegliedert, mit Einzel-Objekten oder ganzen Sälen bekannt. Gerade die komplett eingerichteten historischen Wohnzimmer, die besichtigt werden können, sind irritierend. Menschenleere Alltagsräume
– in der Filmgeschichte Handlungsorte unzähliger Familiendramen – werden hier ihres Gebrauchswerts beraubt und in reine Kunstobjekte und Stellvertreter für Stilrichtungen verwandelt. Dieser Dekontextualisierung der
Schaustücke und der filmischen Eigenwerbung der Museen setzt der Filmemacher und Konzeptkünstler David Lamelas in seinem ersten Film aus dem Jahr 1969 eine radikale Kontextualisierung und damit Entzauberung des musealen Raumes entgegen. In »A Study of Relationships Between Inner and Outer Space« misst er die Ausstellungsflächen des Camden Arts Center im Norden Londons aus, beschäftigt sich mit Beleuchtung und Reinigung der White Cubes, interviewt Angestellte, um dann von Infrastruktur über Bevölkerungsverteilung bis zum Wetterbericht den gesamten Londoner Großraum zu untersuchen.
Fordert Lamelas auf, über die Bedingungen der Existenz einer Institution wie dem Museum nachzudenken, führt Emma Hart die Grenzen des Mediums Film vor. In »Skin Film« vermisst sie sich auf ungewöhnliche Weise selbst. Mit Klebestreifen hat sie die oberste Hautschicht ihres kompletten Körpers abgetragen und auf 16mm-Filmmaterial geklebt. Elf Minuten braucht es, bis die gesamte Hautoberfläche durch den Projektor gelaufen ist. Wie ein traditionelles Kunstwerk ist der Film ein Unikat. Der theoretisch unendlichen Reproduzierbarkeit des Mediums setzt Hart ein Einzelstück entgegen, für das sie – anders als gewöhnlich beim Film – alleinige »Autorenschaft« beanspruchen kann.
Weniger expressiv als Hart, aber dafür noch radikaler beschränkt Morgan Fisher die Reichweite von »Screening Room«. Sein Film wird für jedes Kino, in dem er laufen soll, neu gedreht – und darf auch nur in diesem einen Kino gezeigt werden. Beschränkung auf einen speziellen Ort, wie sie sonst nur aus Kunstrichtungen wie der Land Art bekannt ist. Durch diese »site specifity« widersetzt sich Fishers Film allen üblichen Vermarktungsmöglichkeiten. Auch Pierre Bismuth hat extra für Oberhausen einen Film angefertigt, der Konventionen des Kinos in Frage stellt. In dem nur aus einem Beispiel bestehenden Programm von Achim Borchardt-Hume zeigt der Oscar-Preisträger (zusammen mit Michel Gondry und Charlie Kaufman für das Drehbuch zu »Vergiss mein nicht«) einen unbewegten Film. Akribisch hat er für »Following the Right Hand of Humphrey Bogart and Ingrid Bergman in Casablanca« die Gesten der Stars aus Michael Curtiz’ Klassiker nachgezeichnet. Das daraus entstandene Bild wird in der authentischen ganzen Spielfilm-Länge und zur originalen Tonspur projiziert. Damit sprengt Bismuth nicht nur die Definition von Film als bewegtem Bild; er überschreitet auch die in Oberhausen normalerweise geltende Regel für eine maximale Filmlänge.
Spiegelt Bismuth fremde Bewegungen, bietet die Auswahl von Emily Pethick Selbstreflexionen, im konkreten und abstrakten Sinn. In einer abgefilmten Performance von 1975 (»Performer/Audience/Mirror«) beschreibt Dan Graham vor einem Spiegel stehend zunächst sich, dann jede seiner Bewegungen und schließlich das Publikum. Es kommt zu einer Rückkoppelung: Die Zuschauer reagieren auf Grahams sprachlich gefasste Betrachtungen – durch Gelächter, Herumrücken auf den Sitzen, möglichst unauffälliges Verhalten, was wiederum vom Künstler narrativ aufgenommen wird und erneut zu Reaktionen führt und so weiter… So entsteht eine unbehagliche Stimmung der erhöhten Selbstbeobachtung. Unfreiwillig wird das Publikum selbst Teil der Performance. Direkt auf Grahams schon in den Rang eines Klassikers beförderten Kunstaktion reagiert »What Do You Look Like? A Crypto Demonic Mystery« von Judith Hopf, in dem sie seine Performance an gleicher Stelle noch einmal aufführt, aber in eine Diskussion darüber enden lässt, wie man sich selber im Verhältnis zu anderen sieht.
Ein Jahr vor Graham filmte Joan Jonas eine Spiegelperformance, allerdings nicht vor anderen Leuten, sondern direkt in die Kamera. In »Left Side Right Side« hält sie sich einen Spiegel auf die Nase und beschreibt sich und ihre Bewegungen. Doch anders als Graham erweist sie sich als unzuverlässige Erzählerin, ständig verwechselt sie etwa rechts und links oder ist sich in der Zuordnung nicht sicher.
Um ins eigene Ebenbild zu blicken, muss man sich jedoch in unserer Welt nicht unbedingt vor einen Spiegel stellen. In »The Uninvited« folgen Judith Hopf und Katrin Pesch einer jungen Familie durch Berlins neue Mitte. Ständig spiegeln sich die Figuren in Glasfassaden, polierten Autos, künstlichen Wasserflächen, bis sie schließlich im von Dan Graham gestalteten Glaspavillon im Hof der »Kunstwerke« landen. Moderne Architektur als Spiegelkabinett, das Privates und Öffentliches zugleich vereint und trennt, das Transparenz und Offenheit vorgibt, aber in Wahrheit Machtstrukturen verbirgt.
Pethicks Kür bietet an, die Grundlagen des Mediums zu reflektieren und (wie schon die Filmtheoretiker Jean-Lois Baudry und Christian Metz) den Analogien zwischen Film- und Spiegelbild nachzugehen. Hingegen wird es bei den Programmen von AA Bronson und Mary Kelly schwieriger, die Zusammenhänge zum Thema »Kinomuseum« zu erkennen. Bronsons Auswahl – überschrieben mit »SEX WORK: The Museum as brothel; art house as porn house« – enthält Kurzfilme mit teilweise recht explizitem pornografischen Inhalt, was
er mit der steilen These begründet, dass Prostitution schon immer im Herzen der Kunstwelt gelegen habe. Bronson zufolge haben Museen über die letzten Jahrzehnte hin immer mehr die Sprache und die Methoden der Unterhaltungsindustrie angenommen, deren Avantgarde schon immer die Pornoindustrie gewesen sei. Also könnten die Kulturinstitutionen eine Menge lernen vom verfemten Sexgeschäft.
Kann man Bronsons Beispiele mit etwas Phantasie immer noch als Institutionskritik lesen, zeigt Mary Kelly offenbar einfach drei ihr wichtige experimentelle Werke, die sich alle mit den sozialen und psychischen Konsequenzen traumatischer Ereignisse beschäftigen. In »Fast Trip, Long Drop« etwa setzt sich Greg Bordowitz anhand der eigenen Geschichte mit der Aids-Epidemie und der daraus resultierenden Krise der achtziger Jahre auseinander.
Auch wenn der Kontext zwischen beiden Medien sich nicht immer gleich schlüssig herstellt, mit dem »Kinomuseum« öffnet sich das Festival in Oberhausen auf bisher einzigartige Weise dem Filmschaffen von Künstlern und erlaubt ein selbstreflexives Hinterfragen des Kunst- wie auch des Kinobetriebs.
Den umgekehrten Weg geht übrigens die diesjährige 12. documenta. Neben der Videokunst und den Filminstallationen in den Ausstellungsräumen wird das Großereignis in Kassel erstmals 50 abendfüllende Filmprogramme u.a. mit Hollywoodklassikern präsentieren – allerdings nicht in den obligatorischen White Cubes, sondern an dem Platz, wo sie hingehören: im Kino.
3. bis 8. Mai 2007, www.kurzfilmtage.de