TEXT: ANDREAS WILINK
Der Komfort begann damit, dass jemand uns die Arbeit abnahm – von der Sklavenhaltergesellschaft bis zum Zeitalter der Industrialisierung, als Maschinen die Funktionen übernahmen. Bis zum Absurden. In dem recht sarkastischen Kurzfilm »Super Unit« (Teresa Czepiec) wird uns Le Corbusiers Idee vom Haus als »Machine for living« in ihrer schäbigen Monstrosität am Beispiel eines Wohngebäude-Riegels im polnischen Katowice vor Augen geführt. Die Menschheit sollte es gesünder und glücklicher machen. Wer’s glaubt!
Einfach, reell, beherzt, durch Erfahrung klug und reflektiert. Später ist das Wirtschaftswunder vor ihrer Tür stehen geblieben. Doch sagt sie: »Mit all dem Schönen, mit all dem Schweren, Freude und Kummer« würde sie es noch einmal so haben wollen: »Jawoll.« Sie ist ein Gegenmodell zur namenlosen Frau in Franz-Xaver Kroetz’ »Wunschkonzert«, die ihrem Leben ein Ende setzt, weil sie den Gleichlauf nicht mehr erträgt. Ganz anders Frau B. Hartes Brot. Strenges Glück. Ein beachtliches Dokument.
Der Film gehört zu den 80 Produktionen unterschiedlicher Genres und Längen im Themenschwerpunkt »Komfort« des Internationalen Frauenfilmfestivals Dortmund/Köln. Der Begriff stammt aus England, dem Pionier der Industriegesellschaft. Wir wollen es bequem haben. Bedürfnisse befriedigen. Wohlstand, vielleicht Luxus – Komfort hat mit Konsum zu tun, der Quintessenz des Kapitalismus. Wir wollen Zukunft gestalten. Den Kindern soll es einmal besser gehen. Das war einmal. Wenn wir jetzt und demnächst weniger komfortabel leben, hat es auch damit zu tun, dass uns die Arbeit rational weggespart wurde. »Es geht uns gut. Aber es geht uns beängstigend gut. Die Angst ist Teil des Erfolgs. Sonst gäbe es diese merkwürdige Vorstellung eines langfristigen Abwärts nicht. Wieso kann man glauben, dass es den Kindern und Enkeln schlechter gehen wird? Dass wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, um den erreichten Sozialstatus zu halten?« So sagte und fragte Heinz Bude am 1. Februar in einer Dresdner Rede, in der der Soziologe unsere fragmentierte, vulnerable Gesellschaft luzide analysiert.
Es lohnt den Rückblick.
»Warum ist Frau B. glücklich?«, fragte Erika Runge in ihrem Film 1968. Die vierfache Mutter und Bergmanns-Witwe aus Duisburg-Beeckerwerth putzt die Zimmer ausländischer Kumpel auf der Zeche und hilft in der Werksküche, bis sie Ende 1967 arbeitslos wird. Zum Leben bleiben ihr 250 Mark nach allen Abzügen. Sie bilanziert ihr Leben. Das ehemalige Dienstmädchen heiratete auf Wunsch der Eltern den soliden Hermann. Es ist keine Liebesheirat. Er verliert seine Stellung – dann wird Hitler Reichskanzler. Frau B. schafft und sorgt. Aber die Familie bleibt arm: »Ich habe nicht das Salz mein eigen genannt.« Aber sie erfährt Teilnahme und Solidarität, entlang der Zeiten. Eine Frau im Kittel. Gewerkschafterin. Mutter Courage.
Gleiches gilt für das historische Material der Dortmunderin Elisabeth Wilms, die in vier Jahrzehnten mehr als 150 Amateur-Filme drehte und etwa 1948 den »Alltag nach dem Krieg« festhielt: Trümmer-Beseitigung, Häuser, deren beschädigte Wohnungen nur über wackelige Außentreppen erreichbar waren, Kellerwohnungen für eine Familie mit zwei Betten, in denen acht Personen schlafen, Kleider-Lumpen, ein kalter Ofen, für den die Kohlen »gefringst« werden, Kinderspeisung vom schwedischen Roten Kreuz, Schwarzmarkt, überfüllte Züge. Und immer die Gesichter hohlwangiger, entkräfteter, ins Leere blickender Menschen, die um Jahrzehnte älter aussehen, als sie sind.
Und heute? Komfortzonen in freier Assoziation.
Once upon a time in the West. Über dem Land der ersten Pioniere schwebt – auf einem naiven Gemälde – eine Fortuna. Furcht und Hoffnung bewegte die Amerika-Siedler bei ihrer Ankunft. 300 Jahre später. Bisons grasen auf der Prärie, während es anderswo nur noch kunstvolle Attrappen der wilden Tiere in Lebensgröße sind und an einem dritten Ort eine Rinder-Auktion stattfindet. Der Himmel ist weit, das Gras grün. Fruchtbares Land. Auf einer Häuserfassade ist das Gemälde eines Indianers mit Federschmuck längst verwittert. Eisenbahnen haben die Entfernungen verkürzt. Die Landschaft ist erfasst, erschlossen, eingezäunt: mit Stacheldraht, der die Leitlinie des Dokumentarfilms »Devil’s Rope« (USA/Belgien, Sophie Bruneau) ist. Überall Grenzzäune, massiv zur vormals durchlässigen südlichen Staatsgrenze hin. Aus der Vogelperspektive erscheint das sauber parzellierte Land wie ein Bild von Paul Klee. »Kein freier Durchgang« mehr. Relikte von illegalen Immigranten werden archiviert – Zeugnisse des Scheiterns. All dies nimmt die Kamera in sanfter Bewegung in den Blick, unkommentiert, melancholisch versonnen, betrübt. Eine Nation, »the Land of the Free«, hat sich festgelegt. Für die Ausgeschlossenen aber wurde der »American Dream« zum Albtraum.
»A Girl at my Door« (Korea, Juli Jung) hingegen ist hitzig, nervös, aufgeregt. Erzählt wird die Geschichte des mageren, misshandelten und missbrauchten 14-jährigen Mädchens Do-hee, das die Polizeibeamtin Lee Young-nam, die als Bezirkschefin von Seoul in ein Fischerdorf versetzt wird, so gut es nur geht beschützt vor der gemeinen, gewalttätigen, rückwärts gewandten und lieblosen Umgebung: dem cholerisch brutalen Stiefvater, der ihm beispringenden Großmutter, deren Leiche man dann auf den Felsen am Meer findet, dem Mobbing der Mitschüler. Es ist die Gesetzmäßigkeit der tolerierten Gewalt und der Ausgrenzung als sozialer Befund, die diesen Film still vibrieren lässt. Der intensiv innige Kontakt zwischen der ganz jungen und der erwachsenen Frau, die sich äußerlich immer mehr angleichen, wird dem Verdacht einer sexuellen Beziehung ausgesetzt. Man verhört Lee Young-nam, die als lesbisch registriert ist, und nimmt sie vorübergehend in Haft. Das emotionale Bedürfnis und die Fantasie von Do-hee tun das Ihre dazu, ein Urteil dort zu fällen, wo nichts eindeutig ist. Die Gesellschaft als »geglaubte Gemeinschaft« (Max Weber) will klare Umrisse. So sind die Regeln.
»Rules oft the Game« wurde ausgezeichnet mit der »Goldenen Taube« des Dok-Festivals Leipzig. Der Film von Claudine Bories & Patrice Chagnard (Frankreich) porträtiert, begleitet von Bachs Goldberg-Variationen, drei Jugendliche aus bildungsfernen Milieus. Lolita, Kevin und Hamid werden von einer privaten Arbeitsvermittlung in Workshops, Trainings und durch Simulation von Vorstellungsgesprächen präpariert für den Markt und seine Standards. Die gewiefte Professionalität der jungen Agentinnen und Agenten der Kontaktbörse kollidiert mit dem unbeholfenen, unsicheren Auftreten der Kandidaten, die eine unglückliche Figur machen. Sie sprechen und präsentieren sich falsch, die falschen Klamotten, die falschen Signale – nicht konform. Die ersten 13 Sekunden entscheiden; mehr Zeit bleibt nicht, um Eindruck zu schinden. Die 19-jährige Lolita etwa ist dick, freudlos phlegmatisch, gepierct und drückt ihre Abneigung gegen Leute, die sie nicht leiden kann, mit physischem Unwillen aus. Lächeln tut sie fast nie. Alle drei haben die besten Absichten und die schlechtesten Aussichten. Der permanente Widerspruch zwischen dem Drill zur Selbstoptimierung und der Motivation durch die Coachs und ihrer Supervision und dem Scheitern an den Vorgaben setzt eine renitente Komik frei und entwickelt depressiv grundierten Humor: Die geforderte Dynamik bremst sich permanent aus. »Momente der Menschlichkeit inmitten von Bürokratie«, machte Andreas Dresen als Mitglied der Leipziger Jury aus. Recht hat er.
Märchen handeln manchmal davon, dass Kinder von ihren Eltern ausgesetzt oder verlassen werden. Hier ist es existentiell notwendiger Alltag. »Waiting for August« legte die Regisseurin Teodora Ana Mihai fast wie eine wissenschaftliche Studie an. Georgiana ist erst 15 und verantwortlich für ihre sechs Geschwister in einer Sozialwohnung am Stadtrand von Bacau/Rumänien. Mutter Liliana arbeitet in Turin, um die Familie durchzubringen. Sie sprechen per Telefon oder Skype miteinander. Die kranke Großmutter kann wenig tun. Die Kinder sind auf sich gestellt. Rat holt Georgiana sich in einem Internet-Programm und balanciert das Gleichgewicht mit Managerqualitäten aus. Ihre Adoleszenz ist gestört, sie mit der Aufgabe überfordert, die Schule leidet, sie wird um ihre Jugend und Zukunft betrogen.
Denisa Gabor, zehn Jahre alt, ist taub und hat nicht zu sprechen gelernt. Sie ist »The Queen of Silence« (Agnieszka Zwiefka). Nicht mal Batterien für ihr Hörgerät kann sie sich leisten. Therapeutische Hilfe schafft ihr vorübergehend eine Ahnung von der Welt und dem Sound of Music. Das Roma-Mädchen hat ein Vorbild: einen Bollywood-Filmstar. Sie verkleidet sich, tanzt ebenso leidenschaftlich, nimmt ohne Erfolg an einem Wettbewerb teil und flieht so aus ihrer lautlosen Realität in einen Traum-Taumel. Nur die Folklore-Beats aus den bunten indischen Märchen geben der Misere eine positive Gegenmelodie. Denisas breites koboldhaftes Lachen geht einem zu Herzen. Sie wohnt in einer Elendsbaracke, muss betteln, schämt sich, wird abgewimmelt. Diskriminierung und Ablehnung sind Lebensalltag. Die Kinder spielen, dass die Polizei ihre Leute aus Polen nach Rumänien deportiert. Das geschieht auch. Zurück am Boden liegend bleibt ihr Hörgerät. Die Geschichte hat kein Happy End.
Dortmund: 14. bis 19. April 2015; www.frauenfilmfestival.eu