Boualem Sansals Roman »2084«, den der Verlag Gallimard mit einer Startauflage von 150.000 Exemplaren in die Buchhandlungen brachte, stand im letzten Jahr auf nahezu allen Vorauswahllisten der bedeutenden französischen Literaturpreise, vom Goncourt über Feminina bis hin zum Médicis. Mit dem Großen Preis der Académie française wurde er dann ausgezeichnet, und Michel Houellebecq, der in seinem Beststeller »Unterwerfung« ein paar Monate vor Erscheinen von Sansals »2084« das Zukunftsszenario eines islamisierten Frankreichs ausbuchstabiert hatte, lobte den Roman in den höchsten Tönen.
Doch ein solcher Verkaufs- wie Kritiker-Erfolg lässt sich häufig eher durch die Debattentauglichkeit als durch die literarische Qualität eines Buches erklären. So verhält es sich auch mit »2084«, denn die Dystopie, die der mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete algerische Autor entwirft, erhebt von der ersten Seite an den Anspruch, kein bloßes Gedankenspiel zu sein, sondern eine denkbare Wirklichkeit. »Schlaft ruhig, brave Leute, alles ist völlig falsch und der Rest ist unter Kontrolle«, so mahnt Sansal mit bitterer Ironie in seiner »Vorwarnung«, die den Leser doch eigentlich darauf hinweisen soll, dass ein Roman ein Werk reiner Erfindung sei.
Die Zukunft sieht so aus: Das Land Abistan ist siegreich aus dem großen Heiligen Krieg hervorgegangen. Als von George Orwells Roman »1984« bekannter totalitärer Überwachungsstaat, der allerdings um eine einzige Religion herum gebaut wurde und Widerspruch genauso wenig wie Gedankenfreiheit toleriert. Der Islam wird auf keiner Seite erwähnt, doch es ist klar, dass Sansal von dessen Radikalisierung schreibt. Der Gott Abistans heißt Yölah, sein Prophet Abi, man spricht Abilang, eine auf kurze Wörter und onomatopoetische Laute reduzierte Schrumpfform von Sprache, die so eingerichtet ist, dass sie komplizierte Gedanken nicht zulässt. Frei bewegen dürfen sich die Bewohner in dieser postapokalyptisch wüsten Welt nicht, es sei denn, sie sind für eine Pilgerreise auserwählt.
Dass »2084« ein so großes Echo hat hervorrufen können, liegt daran, dass Sansal mit sprachmächtiger Redundanz und in den dunkelsten Farben den Albtraum des von Terroranschlägen wunden Europas ausmalt. In Interviews wird der Schriftsteller nicht müde, vor dem totalitären Anspruch des Islams zu warnen. Man darf davon ausgehen, dass Sansals »2084« die Diskussion über religiösen Fundamentalismus und die Modernisierungsfähigkeit des Islams befeuern wird – zugleich aber auch Zweifel daran haben, ob das Buch dieser Diskussion gut tut.
Boualem Sansal: »2084. Das Ende der Welt«, Merlin Verlag, Gifkendorf 2016, 281 Seiten, 24.- Euro
Lesung am 30. Mai im Institut français Köln, am 31. Mai im Kulturzentrum Essen (Bigattastr 34.)