Dieser Roman ist auch eine erschöpfende Zumutung, aber eine großartige. Da liegt einer nachts wach und träumt sich mit offenen Augen durch die Kulturgeschichte. Franz Ritter, um den Schlaf gebracht durch die medizinische Diagnose »sterbenskrank«, beherzigt – statt Schafe zu zählen – auf der Suche nach Ruhe den Ratschlag aus einer Fernsehserie: »Go to your happy places«. Diese Orte liegen von Wien aus gesehen, wo der Musikwissenschaftler um 23:10 Uhr seine Erinnerungsreise beginnt, in östlicher Richtung: von Istanbul geht es über Syrien, Irak in den Iran. Zurück in Städte, in denen er einst mit Sarah, seiner unerfüllten Liebe, auf Forschungsreise gewesen ist.
Sarah, die ebenso schöne wie belesene französische Literaturwissenschaftlerin, hatte ihn auf einem Orientkongress verzaubert. Bei Palmyra liegt Ritter zusammen mit ihr immerhin eine Nacht im improvisierten Expeditionsbett, näher aber wird er ihr nicht kommen. Zumindest nicht physisch, denn intellektuell stellt sich zwischen beiden schnell eine große Intimität her. Sie interessiert sich für die Morgenlandbegeisterung europäischer Schriftsteller, Ritter hingegen erforscht den Einfluss arabischer Musik auf westliche Komponisten. Sie haben mit zahlreichen Künstlern des 19. und 20 Jahrhunderts eine große Orientfaszination gemeinsam. Diese Sehnsucht, so mutmaßt Ritter, speist sich wohl auch aus der Hoffnung, von der eigenen Melancholie geheilt zu werden. Mit Wissen, Reisen und Mystik trachten die Sinnsucher ihre schwarze Galle zu besiegen.
Bis zum Morgengrauen wird Franz Ritter Rückschau halten, sieben Stunden voll von Träumen und Erinnerungen, Assoziationen und gelehrten Exkursen. Die ersten französischen Orientreiseliteraten Chateaubriand und Lamartine huschen über die Bühne von Ritters nächtlichem Kopftheater genauso wie der Diplomat und Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall, Goethe, Beethoven, Liszt oder Bartòk. Immer wieder bekommt Énard dabei auch die Gegenwart in den Blick, die von Unbildung geleitete Zerstörungswut des IS genauso wie das zerbombte Aleppo, über dem »der Geruch von Dummheit und Traurigkeit« liegt.
Unabhängig von der stilistischen Eleganz und formalen Ambition, lässt sich »Kompass« auch als Gegenentwurf zu den alarmistischen Zerrbildern lesen, die Schriftsteller wie Michel Houellebecq oder Boualem Sansal in ihren Romanen vom Islam gezeichnet haben. Sansals Dystopie »2084« galt im letzten Jahr als einer der stärksten Mitwettbewerber um den bedeutendsten französischen Literaturpreis »Prix Goncourt«. Am Ende wurde mit Énards »Kompass« das sperrigere Werk ausgezeichnet.
Énards Roman versteht sich nicht als literarischer Debattenbeitrag zur überhitzten Diskussion über den »Clash der Kulturen« – und eben deshalb hat »Kompass« auch politisches Gewicht. Denn Énard, der selbst lange Zeit in Damaskus, Beirut und in Teheran gelebt hat, beschreibt die wechselseitige kulturelle Durchdringung von Okzident und Orient als kompliziert verwickelte Liebesgeschichte. Das letzte Wort dieser nächtlichen Bildungsobsession heißt
übrigens: Hoffnung.
Mathias Énard: »Kompass« Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller, Hanser Berlin, Berlin 2016, 432 Seiten, 25 Euro
Lesungen am 26. Oktober im Institut français, Köln und am 27. Oktober im Heine Haus, Düsseldorf