»Nach Frankreich, Italien, ja bis nach Japan haben wir unsere Sachen schon geschickt «, sagt Museumsleiterin Gisela Götte nicht ohne Stolz. »Es gehen unendlich viele Leihgesuche ein.« Und alle interessieren sich nur für eines – den Symbolismus. Denn mit Werken dieser gesamteuropäischen Strömung ist das Clemens-Sels-Museum bestens bestückt. So besitzt das Neusser Haus beispielsweise als einziges hierzulande mehrere Bilder von Gustave Moreau. Auch was Arbeiten der symbolistisch gesinnten Nabis angeht, steht es an der Spitze. Bei der großen Maurice-Denis- Ausstellung kommenden Herbst in Paris ist Neuss mit einer ganzen Hand voll Leihgaben dabei. Wahrscheinlich, so meint zumindest Götte, wäre die Schau des Nabis-Malers ohne Zutun des Clemens-Sels-Museums gar nicht machbar gewesen.
Der Symbolismus ragt heraus aus einem ansonsten ziemlich unübersichtlichen Sammlungsmix: Das Neusser Museum bewahrt römische Bodenfunde und Dokumente zur Stadthistorie, bildende wie angewandte Kunst des 14. bis 18. Jahrhunderts. Nazarener und Präraffaeliten, rheinische Expressionisten und viele Naive Meister bestücken neben den Symbolisten die Kollektion mit Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Nicht zu vergessen die seit rund 20 Jahren wachsende Abteilung mit konzeptueller Farbmalerei – inzwischen umfasst sie um die 30 Arbeiten.
Zum Querbeetprogramm passt die heterogene architektonische Hülle. Weit oben über der Straße verbindet eine Brücke die beiden Trakte des Museums. Auf der einen Seite das Obertor, beeindruckender Teil der Befestigung aus dem 13. Jahrhundert und Wahrzeichen der Stadt; hier sind die mittelalterliche Abteilung und die Volkskunst untergebracht. Auf der anderen Seite der 1975 aus Klinker und Sichtbeton errichtete Solitär des Münsteraner Baumeisters Harald Deilmann.
Hinter den roten Mauern herrscht Enge. Erschwerend kommen die mächtigen Betontreppen hinzu. In der ersten Etage führen sie geradewegs auf das repräsentative Glanzstück des Hauses zu: Es stammt von Maurice Denis und trägt den Titel »Lasset die Kindlein zu mir kommen«. Immer bemüht um die Belebung der religiösen Kunst, aktualisiert Denis hier die Christusgeschichte aus dem Matthäus- Evangelium. So verlegt er das Geschehen ins Jahr 1900 und wählt als Schauplatz Saint Germain-en-Laye, seinen Wohnort nahe Paris. Der Maler stellt sich zusammen mit seiner Familie wie auf einem mittelalterlichen Stifterbild in Verehrung vor dem Heiland kniend dar. Mit seinen sanft geschwungenen Linien, den blassfarbenen Flächen und dem Wechsel von Licht- mit Schattenzonen ähnelt das Gemälde einem Gobelin.
Im Clemens-Sels-Museum findet Denis, der sich auch als Theoretiker der Nabis hervortat, Gesellschaft einer ganzen Reihe gleich gesinnter Kollegen, darunter Édouard Vuillard, Félix Vallotton, Paul Ranson oder Ker- Xavier Roussel. Pierre Bonnard ist mit einem Frühwerk vertreten. Für weitere Arbeiten kam Neuss zu spät. Denn in den 80er Jahren setzte der Run auf den zuvor wenig beachteten Symbolismus ein, und die Preise schnellten in die Höhe.
Zu danken hat Neuss seine Schätze des Symbolismus vor allem der langjährigen Museumsdirektorin Irmgard Feldhaus und ihrer geschickten Ankaufpolitik. Götte umschreibt die verdienstvolle Arbeit ihrer Vorgängerin treffend als »Nischenpflege«. Schon in den 50er Jahren hatte Feldhaus den im Verborgenen blühenden Symbolismus entdeckt. Damals blickte alles auf die Impressionisten oder auch auf den Expressionismus, und die Museumsleiterin konnte bis in die 70er Jahre hinein für vergleichsweise wenig Geld wichtige Stücke erwerben. Dabei richtete sie ihren Blick nicht nur auf die Franzosen, auch Symbolistisches aus anderen europäischen Ländern wurde eingekauft.
Was die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts angeht, hatte Feldhaus 1950 in Neuss von Null angefangen – Kunstwerke dieser Zeit waren zuvor überhaupt nicht gesammelt worden. Denn ursprünglich hatte sich das Haus ganz andere Ziele gesetzt: Die Geschichte des Instituts startet 1845 mit lokalen römischen Bodenfunden, unter der Trägerschaft des Neusser Altertumsvereins sollten diese Schätze in einer öffentlichen Sammlung vereint werden. Wenig später kamen Dokumente zur Stadt- und Volkstumsgeschichte hinzu.
Nachdem das Unternehmen vorübergehend eingeschlafen war, weckte der kunstbegeisterte Neusser Bürger Clemens Sels gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Interesse an den fast vergessenen Beständen wieder auf. Er erweiterte sie wesentlich, und schon bald bezog man damit das Obertor am Rande der historischen Altstadt. Nach dem Tode von Sels und seiner Frau bekam die Stadt deren private Kunstsammlung. Ihren qualitätvollen Kern bilden einige mittelalterliche Altartafeln. Dazu stiftete das Ehepaar Sels 250.000 Mark für den Bau eines eigenen Museums am Marktplatz. Das neoklassizistische Haus im Stil eines antiken Tempels fiel jedoch dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Und so musste sich Feldhaus 1950, bei der Wiedereröffnung des nun erstmals nach seinem großen Gönner Clemens Sels genannten Museums, wieder mit der alten Bleibe im Obertor begnügen. Sie füllte die während des Krieges stark dezimierten Bestände auf und etablierte mit der neueren Kunst einen zusätzlichen Sammlungsschwerpunk. Ihr besonderes Interesse galt dabei nicht nur dem Symbolismus. Auch den rheinischen Expressionisten wie Heinrich Campendonk schenkte sie einige Aufmerksamkeit. Und natürlich den Nazarenern, jener Künstlergruppe, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine »Erneuerung der Deutschen Kunst aus dem Geiste der alten Meister « zum Ziel gesetzt hatte.
Auf diesen Gebieten ragt die Neusser Sammlung allerdings nicht hervor in der deutschen Museumslandschaft. Ganz anders beim Symbolismus, wo sie wirklich an der Spitze liegt. Auch wenn es wegen der explodierten Preise sehr schwer fällt, versucht Götte diese außergewöhnliche Stärke ihres Hauses weiter auszubauen. Und gelegentlich gelingt ihr tatsächlich noch ein erschwinglicher Ankauf: So konnte Götte etwa ein wichtiges Werk des Belgiers Fernand Khnopff ankaufen, an dem selbst Musée d’Orsay und Getty-Museum Interesse bekundet hätten, sagt sie.
Auch die »Lesende Frau an der Lampe« von Józef Rippl-Rónai hat sie erstehen können. Der ungarische Nabi zählte das 1891 gemalte Frauenprofil zu seinen »Schwarzen Bildern«. Nur andeutungsweise treten hier die Formen aus dem Dunkel hervor, die Farbübergänge sind fließend. Schon lange reicht der Raum im Clemens- Sels-Museum nicht mehr aus, um die wachsenden Bestände angemessen vorzuzeigen. Deshalb ist auch in Neuss seit vielen Jahren ein Erweiterungsbau im Gespräch. Der Architektenwettbewerb ist bereits gelaufen, und wahrscheinlich könnten die Pläne des siegreichen Kölner Baumeisters Gernot Schulz schon bald verwirklicht werden, hofft Götte. Als Grundstück stellt die Stadt einen Teil des an den Deilmann-Bau grenzenden Stadtgartens zur Verfügung. Hier will Schulz drei neue Bauteile errichten, die zusammen mit den bestehenden ein Ensemble bilden: Der erste Körper ist flach und würfelförmig, er nimmt Foyer wie Verwaltungsräume auf und vermittelt mit einer zweigeschossigen Halle zum erhöhten Terrain des Stadtgartens. Die zweite neue Einheit plant Schulz als hochrechteckigen Körper, der die Sammlungsräume aufnimmt, Geschossweise nach Jahrhunderten gestapelt. Für die Mitte der so gebildeten Platzfläche sieht der Entwurf eine wasserbedeckte horizontale Glasfläche mit umlaufender Sitzbank vor. Darunter ist in elf Metern Tiefe Platz für Wechselausstellungen. Mit dieser Erweiterung würde die Nutzfläche des Museums vervierfacht – auf rund 4500 Quadratmeter.
In Göttes Büro veranschaulicht ein Modell die großen Pläne, doch findet die gestresste Museumsfrau kaum Zeit, sich eingehender damit zu beschäftigen. Denn erst kürzlich hat ihr Chef, Peter Dering, nach nur vier Monaten im Amt gekündigt. Nun muss die bisherige Stellvertreterin kommissarisch den Direktorenposten ausfüllen und dazu die von Dering begonnene Arbeit an einer großen Max-Klinger- Graphik-Ausstellung vollenden: »Die Eröffnung ist für den 5. März angesagt, und wir haben bis dahin noch den kompletten Katalog zu machen.«
Klinger, der Symbolist, wird sich in Neuss zuhause fühlen.