»10. September 2005 Berlin-Plötzensee. Eine rote Kordel teilt den Raum. Über den Fenstern die Stange mit den sechs Haken. Ich steige über die Absperrung und packe meine 70 x 100 Bögen Vorsatzpapier und das Kästchen mit den Graphitstiften aus. Die Arbeitshaltung ist Kniefall. Ich bin ruhig und tue, was ich mir als Erinnerungsarbeit vorgenommen habe: Spuren abreiben vom groben Estrich, der zahllose Narben hat. Im vorderen Drittel der abgeteilten Fläche ist ein schmaler Gully mit sieben eisernen Stegen, nicht viel größer als ein Blatt A4. Dort in unmittelbarer Nähe stand die Maschine zum Töten: das Fallbeil.«
16. Februar 1943. Kurz vor sieben Uhr abends gehen die Füße der 40-jährigen Amerikanerin Mildred Harnack, geb. Fish, über diesen groben Estrich mit den zahllosen Narben. Füße, deren verschwundenen Abdruck der Künstler Franz Rudolf Knubel in seiner Frottage aus der Vergangenheit zurückzuholen versucht. Vielleicht gehen diese Füße stockend und widerstrebend. Vielleicht aber gehen sie auch ruhig. Denn wenig zuvor hatte die Literaturwissenschaftlerin Harnack in dem Goethe-Gedichtband, den sie bei sich trug, das Poem »Das Vermächtnis« ins Englische übertragen, mit Bleistift rechts und links neben die Druckzeilen: »Kein Wesen kann zu nichts zerfallen … – No being can to nothing fall. / The Everlasting lives in all.« Vielleicht hat ihr dies Frieden gegeben. Es ist 18 Uhr 57. Weiter gehen Mildred Harnacks Füße nicht. Auch ihre letzte Haltung ist der Kniefall. Dann trennt das Messer der Guillotine ihr den Kopf vom Rumpf. » … und ich habe Deutschland so geliebt«, sind ihre letzten Worte.
65 Jahre später heißt Deutschland lieben, niemals in Vergessenheit geraten zu lassen, was in Deutschland geschah. Nicht die Millionen indus-triell Vernichteten von Auschwitz. Nicht die 2891 per Hand Ermordeten von Plötzensee. Nicht die Einzelnen wie Mildred Harnack-Fish. Ihr zur Erinnerung ist fast genau ab dem Jahrestag ihrer Ermordung in Essen eine Ausstellung zu sehen, die dieser – wie Zeitzeugen sich erinnern – klugen, klaren, schönen, mutigen Frau gerecht zu werden versucht: einer Amerikanerin, der ihre Liebe zu einem Mann, zu Deutschland, zur Freiheit den Tod eintrug. Sieben Abreibungen des Bodens, über den Mildreds letzte Lebensschritte gingen, werden auch den Boden im Maschinenhaus der Zeche Carl bedecken. 28 große Fahnen darum herum werden Lebens-Texte, -Bilder, -Materialien versammeln, darunter Faksimila des Gedichtbands »Das Göttliche«, 1941 bei Rütten & Loening in Potsdam erschienen, in dem Mildreds letzte Schriftzüge zu lesen sind.
Mildred Elizabeth Fish. Am 16. September 1902 wird sie in Milwaukee, Wisconsin, geboren, lernt 1926 an der Universität Madison, wo sie Literaturwissenschaft lehrt, den deutschen Juristen und Wirtschaftswissenschaftler Arvid Harnack kennen und heiratet ihn. Sie folgt ihm 1929 nach Deutschland, promoviert in Gießen, lehrt amerikanische Literaturgeschichte an der Berliner Universität, ist Lektorin bei Rütten & Loening und Übersetzerin – auch von Radio-Ansprachen Präsident Roosevelts. Und ist, wie ihr Mann, seit 1933 Mitglied eines erst locker organisierten, dann immer enger verknüpften Netzwerks von Berliner Widerständlern, das von den Nazis »Rote Kapelle« genannt wird. Dazu gehören der frühere preußische Kulturminister Adolf Grim-me, der Aachener Schriftsteller Adam Kuckoff und der Bildhauer Kurt Schumacher, aber auch Arbeiter und Industrielle, Schauspieler, Journalisten, Ärzte, Intellektuelle; insgesamt etwa 150 Personen. Manche von ihnen haben Verbindungen zur KPD, es gibt einige persönliche Kontakte (sowie einen nicht funktionierenden Funk-Kontakt) nach Moskau, wohin Arvid Harnack, der im Reichswirtschaftsministerium, und Mitverschwörer Harro Schulze-Boysen, der im Luftfahrtministerium arbeitet, ihre Kenntnisse der Angriffspläne gegen die UdSSR übermitteln. Die Pläne der Roten Kapelle für ein Nachkriegsdeutschland indes ähneln denen Stalins und der deutschen Exil-Kommunisten wenig, sie sind vage sozialistisch wie die der Weißen Rose, speisen sich aus Vorstellungen der Reformbewegung des Jahrhundertanfangs, wie der Historiker Hans Mommsen im Vorwort des Ausstellungskatalogs vermerkt.
Seit Kriegsbeginn trifft sich die Gruppe regelmäßig im Geheimen, oft in der Woyrschstraße 46 bei den Harnacks (heute Genthiner Straße). Mit dem Russlandfeldzug 1941 beginnt die Gruppe, Zwangsarbeiter und Juden zu unterstützen sowie antinazistische Flugblätter zu verschicken, auf denen vor der sicheren Niederlage gewarnt wird und nicht zuletzt die Gräuel des NS-Militärs in der Sowjetunion angeprangert werden – Verbrechen, von denen später behauptet wird, dass sie zu jener Zeit niemand kannte. Bis 1942 ist die Gestapo erfolglos, dann kommt sie der »Kapelle« auf die Spur: Ein Funkspruch aus Moskau wird dechiffriert, in dem die Namen zweier Widerständler genannt sind. Bis März 1943 werden mehr als 120 Männer und Frauen verhaftet, verhört, gefoltert, im Dezember wird den ersten vor dem Reichskriegsgericht der Prozess gemacht, der mit dem Todesurteil endet; auf Befehl Hitlers muss es durch den Strang vollstreckt werden. Am 22. Dezember 1942 um 19 Uhr 10 wird Arvid Harnack in Plötzensee erhängt, fünf Minuten nach Harro Schulze-Boysen. Um 20 Uhr 33 sind weitere neun Nazigegner tot. Mildred Harnack-Fish ist drei Tage zuvor zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden; weil dies dem »Führer« zu milde erscheint, endet ein zweiter Prozess mit dem gewünschten Justizmord. Insgesamt werden mehr als 50 Angehörige der Gruppe von den Nazis umgebracht.
Nach dem Mord folgt der Rufmord. Schon für die Gestapo waren die Harnacks und ihre Freunde einfach hochverräterische Sowjetspione (»rot« stand für kommunistisch, »Kapelle« für eine organisierte Gruppe von »Pianisten«, d.i. Funkern). Im Nachkriegswestdeutschland übernehmen Justiz und Öffentlichkeit diese Lesart, die den Ermordeten historische Genugtuung, den Überlebenden und ihren Nachkommen Wiedergutmachung verweigert. Eine dem Ostwestkonflikt geschuldete Geschichtsklitterung, zu der sich 1968 nicht einmal der »Spiegel« zu schade ist, wie Johannes Tuchel im Katalog der Ausstellung erinnert – Tuchel ist Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, die das Erinnerungs-Ensemble zu Mildred Harnack-Fish zuerst gezeigt hat. Konzipiert und entworfen aber wurde die Ausstellung von dem Essener Künstler Franz Rudolf Knubel, bis zu seiner Emeritierung auch Professor für Gestaltung an der dortigen Universität. Eine Monografie über Mildred Harnack brachte den geborenen Münsteraner auf die Spur der Amerikanerin, der Goethe-Band mit den handschriftlichen Übersetzungen der Inhaftierten im Berliner Widerstands-Archiv – vom Plötzensee-Pfarrer gerettet – elektrisierte ihn. Warum die Annäherung an das Leben und den Tod Harnacks auf diese Weise, mit Frottagen, Abreibungen? Weil sie, sagt Knubel, die Berührung mit dem einstmals Lebendigen in sich bewahren – wie die Totenmaske, die man dem Gesicht eines Verstorbenen abnimmt.
»Was fruchtbar ist, allein ist wahr – / Du prüfst das allgemeine Walten, / Es wird nach seiner Weise schalten. / Geselle dich zur kleinsten Schar.« – »Your place is with a chosen few«, ist die letzte übersetzte Zeile. Die kleine Schar wur-de vernichtet, niemand nahm Mildred Harnack die Totenmaske ab. Andere Amerikaner besiegten Nazi-Deutschland. Die Urteile gegen Mildred Harnack und die andern aber sind bis heute nicht aufgehoben. //
»… Zur kleinsten Schar/… With a chosen few. In memoriam Mildred Harnack-Fish«, 14. Februar bis 30. März 2008, Maschinenhaus Essen, Zeche Carl, Wilhelm-Nieswandt-Allee 100. (Danach Madison University, Wisconsin.) Ausstellung mit umfangreichem Rahmenprogramm aus Schreibwerkstatt, Lesung, Musik, Performance, historisch-politischer Stadterkundung sowie Installation des Videokünstlers Tom Briele. Katalog 8,Euro. www.maschinenhaus-essen.de. Shareen Blair Brysac: Mildred Harnack und die Rote Kapelle. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau und einer Widerstandsbewegung; Bern 2003