TEXT: ANDREAS WILINK
»Es gibt keinen Grund, dem Publikum den Ernstfall vorzuenthalten«, schreibt Alexander Kluge und bezieht sich dabei auf seine Erfahrung als kindlicher Opernbesucher der tödlich endenden »Tosca«. Wes Andersons Film beginnt mit Pauken und Trompeten: Vier Geschwister hören Henry Purcells Arrangement von Benjamin Britten – eine Ouvertüre für den Ernstfall. In »Moonrise Kingdom« wird beinahe gestorben, baumeln Menschen in der Luft, wird ein Kind kohlrabenschwarz angebrannt, schnappt eine Schere blutig zu. Märchenzeit eben!
Das Haus, in dem der Teenager Suzy mit seinen Eltern und drei kleinen Brüdern lebt, hängt als naives Gemälde auch im Flur an der Wand. »Moonrise Kingdom« braucht immer Zwei für eine Einheit. Das Haus steht in Summer’s End und sieht aus, als könne jeden Moment Peter Pan hereinschneien, um seine Wendy zu entführen. Ein Haus wie ein Schiff auf hoher See, wie ein Fels in der Brandung, einsam an der Küste von Neuengland.
Der Junge, um den es hier neben Suzy geht, scheint im Gegenteil zu Peter Pan immer schon erwachsen gewesen zu sein: was nicht nur an seiner dicken schwarzrandigen Brille liegt und nicht nur an seinem altklugen Wesen. Vor einem Jahr hatte Sam (Jared Gilman) bei einer kirchlichen Aufführung von Noahs biblischer Geschichte in der Mädchengarderobe, wo sich die Darstellerinnen der Tierpaare kostümieren, Suzy (Kara Hayward) entdeckt. Sie trug eine Raben-Maske. Ein Blick genügte und die beiden erkannten einander. Zwei Störfälle: Sam, der 12-jährige Waisenjunge, der noch das Bett nässt, den niemand mag und den seine Pflegeeltern nicht mehr zurückhaben wollen, nachdem er das Pfadfindercamp nächtens verlassen und sich mit dem Kanu aufgemacht hat zum Treffpunkt mit der Geliebten; und Suzy, die in ihrer Familie als therapiebedürftig gilt und die die Welt am liebsten durchs Fernglas betrachtet, so dass nah und weit sich relativieren. Im Camp beginnt die Suchaktion, als nach dem Morgenappell Scout Sam fehlt – die Kameraden bewaffnen sich, denn der Ausreißer gilt als gefährlich. Wer anders ist, dem kann man nicht trauen.
Wes Anderson hat viel übrig für Sonderlinge, so sehr, dass es ihm weniger um eine handlungsreife Geschichte geht, als um die eigene Welt, die um sie her entsteht und in der das Besondere gedeiht. Dafür bieten die Sixties das schönste Grundmuster und die Pubertät die besten Jahre. Die hingebungsvolle Regie belässt es nicht beim narrativen Ablauf, sondern driftet zart, leise, spaßhaft und gemütvoll ins Surreale, schiebt Stillleben, Einzelbilder, Gegenstände in den Vordergrund, wodurch das bunte Poesiealbum sich dem Comic anschmiegt. Bei aller Künstlichkeit feiert sich hier keine Retro-Seligkeit.
Wenn Sam (mit Pelzmütze) und Suzy in Kniestrümpfen und mit Make-up an ihrer Bucht anlegen, das Zelt aufschlagen und ihre Sachen auspacken, holt sie für ihren tragbaren Plattenspieler eine Single mit Françoise Hardys »Le temps de l’amour«. Wann, wenn nicht jetzt, ist Zeit für das Abenteuer des Lebens. Zur Initiation gehört das Durchstechen ihrer Ohrläppchen für zwei Käfer am Faden, ein Tanz am Strand und der erste echte Kuss.
Die Zwei werden dann eingefangen und getrennt. Aber so herzlos sind die Erwachsenen gar nicht, sondern ihnen selbst nur die Gefühle abhanden gekommen. All die verlorenen Seelen verdienen die Rettung aus der Urkatastrophe. Das gilt für den Ortspolizisten Sharp (Bruce Willis), den Scoutführer Ward (Edward Norton) und für Suzys Eltern: Wenn Bill Murray und Frances McDormand nebeneinander in getrennten Betten liegen, sagt sie: »Wir sind alles, was wir haben«, und er antwortet: »Das reicht nicht«. Nur das personifizierte »Jugendamt« in blauer strenger Tracht (Tilda Swinton), das Sam ins Heim stecken will, hat nichts kapiert. Während aus dem Off das hohe deutsche Kunstlied tönt und Hymnen zum Halleluja anschwellen, schlägt der Blitz ein, zieht Unwetter auf, brechen Dämme, naht die große Flut. Die Wassermassen müssen fließen, um den neuen Pakt zu schließen. Wir lernen: Familie ist nicht alles. Es gibt auch Wahlverwandte. Traumhaft wahr. Ein Film wie ein Glückskeks. Nicht nur bei Vollmond zu genießen.
»Moonrise Kingdom«; Regie: Wes Anderson; Darsteller: Bruce Willis, Edward Norton, Bill Murray, Frances McDormand, Tilda Swinton, Jason Schwartzman sowie Jared Gilman und Kara Hayward; USA 2012; 95 Min.; Start: soeben angelaufen.