TEXT: ANDREAS WILINK
Der Schrei eines Knaben, seine weit geöffneten Augen und ihr Sog ins Innere der Bilder. Christoph Girardet & Matthias Müller komponieren in »Meteor« eine ihrer exquisiten, auch auf Festivals wie Cannes und Venedig gern gesehenen, vielfach ausgezeichneten sowie von Museen gesammelten Bilderzählungen. Ein ästhetisch artistisches Flirren: böses Märchen, Kindheitstraum, Psycho-Porträt in 50 Jahre altem Schwarzweiß, Erziehungsdrama zwischen Seele und All, Realität und Science Fiktion, Hölle und Himmel, Staunen, Angst und Einsamkeit. »Meteor« ist wie »Melancholia« in 15 Minuten, tänzerische Mélo-Montage und schwerelose Mondscheinsonate – als Found Footage wie stets raffiniert konstruiert, symbolisch aufgeladen, opernhaft und emotional anrührend. Girardet & Müller sind die Großmeister der kleinen Form.
In der ebenfalls schwarzweißen Zerstörungs-Sinfonie »Sounding Glass« destilliert Sylvia Schedelbauer aus dem Blick eines farbigen jungen Mannes die globale Katastrophe. Der Hirnsturm und Tsunami des Terrors und der Gewalt von politischer Herrschaft und amoralischer Natur entwickelt sich visuell wie zum Takt unseres flackernden Lidschlag. Das Auge begegnet der Gefahr und trotzt ihr.
Das Experimentelle steht im Oberhausener Deutschen Wettbewerbs-Jahrgang 2012 hoch in Kurs und ist auf bestechendem Niveau. Auch so kann man Referenz erweisen gegenüber den Forderungen der Männer des Manifests.
Zum Beispiel in der Comic-Ode »An das Morgengrauen« (Mariola Brillowska), in der ein Hexen-Hausfrauchen einen surrealen blutroten Muttermund-Monolog hält und mit ihrem Katzentier in sexueller Symbiose lebt. Formschön elegant erweist »Item Number« von Oliver Husain einer Dame in Grün-Grau die Referenz, theatral choreografiert als orientalische Fantasie, mehrfach gebrochen und zu Splittern einer Selbstbespiegelung montiert, bis der Vorhang vor der Kulissenwelt sich öffnet. John Cassavetes was here!
Der bizarrste Film – »The Humping Pact« (Dmitry Paranyushkin & Diego Agullo) – zeigt, um es neutral zu sagen, eine Performance und Installation. Drei Dutzend Männer, nackt bis auf ihre Wollmützen, kopulieren in einer Massenorgie auf der Zeche Zollverein mit dem Industriebauwerk selbst und der das Gelände umgebenden Natur. Sie reiben und drängen in rhythmischer Bewegung die Leiber gegen den Mutterboden, rammeln gegen Baumstämme, klemmen und klammern sich an Schienen, Betonwände, Treppengerüste, Rohre, riesige Räder, Stahlträger und krallen sich stöhnend in den feuchten Matsch. Die zwölfminütige maschinenhaft monotone Übung bildet das Echo der längst verstummten stampfenden Geräusche der Arbeitswelt und reagiert in geilem Reflex auf das Eindringen in die kohlenschwarze Erdtiefe. Die manisch aktiven Körper bilden ein Panorama, erinnernd an ein wimmelndes Inferno des Hieronymus Bosch, bloß übersetzt in eine postindustrielle, posttraumatische Wirklichkeit.
Und noch zwei Nackte – schwule alte Männer in ihrer kleinbürgerlich gemütlichen Wohnung mit Teppich, Nussbaumvitrine und Sofakissen, die ihre sexuellen Erziehungsspielchen praktizieren, sich gegenseitig helfen, Ledergeschirr, Ketten und Folterklammern anzulegen und die SM-Methoden aussehen lassen, als würde etwas Drolliges passieren. Auch dies: Deutschland privat, beobachtet von einem Regisseur, der entsprechend Jan Soldat heißt und mit dem Titel »Zucht und Ordnung« noch ganz andere Assoziationen wach ruft.
Dennoch können dokumentarische bzw. pseudo-dokumentarische Arbeiten höchstens Skurrilität für sich beanspruchen: wie die kirmestolle Geschichte »The Centrifuge Brain Project« (Till Nowak), die Wissenschaftlichkeit simuliert, indem sie behauptet, Rummelplatz-Karusselle als Apparaturen für neuro-psychologische Forschung zu nutzen. Oder »Poesie des Zufalls« , der uns indirekt mit dem fiktiven Carl aus Murnau bekannt macht, dessen Hinterlassenschaft von einer Gruppe seiner Freunde betrachtet wird: Carl war Jäger und Sammler, ein Messie, stark und energisch wie ein Wikinger, der Dinge hortete aus Wahn oder Erinnerungswut. Nun ist das Arsenal verbrannt, und Carls Lebensmenschen betreiben Spurensuche anhand des im Schmelz-, Feuer- und Vernichtungsprozess zerstörten Sammelsuriums von Briefen, Karten, Gemaltem, Werkzeug, Stoffen, Krempel und Kuriosa. Es scheint die Zerbrechlichkeit der Existenz auf, wenn am Ende der Filmemacher Daniel Lang mitteilt, die Aufnahmen seien in den Überresten des real existierenden Bauernhof seiner Eltern entstanden, nachdem das Gebäude in Flammen aufgegangen war.
Augen zu und die inneren Bilder entstehen und sehen lassen: In »Kedi« (Katze) stellt Stefan Neuberger türkische Frauen, Männer, Kinder statisch vor die Kamera und lässt sie bei geschlossenem Auge erzählen oder stumm denken – Katzengeschichten, die aus dem Kopf und Mund der Erzählenden in filmische Szenen übersetzt werden. Vielleicht sind es Kindheits- und Heimaterinnerungen oder Sehnsuchts-Projektionen, vielleicht Erfindungen und Legenden. Fabelhaft jedenfalls. Es war einmal… Das Auge im Dienst der Fantasie. Auch dies ein Appell.
26. April bis 1. Mai 2012. www.kurzfilmtage.de