Thomas Olbricht lässt Nachdenklichkeit anklingen: »Es geht alles so schnell im Moment.« Am Tag zuvor erst hat der Sammler das letzte Bild gekauft, es stammt von Heike Kati Barath, einer deutschen Künstlerin, die sehr eigenwillig mit viel Farbe, aber auch figurativ malt. »Das hat mir gefallen, mehr nicht.« Kurz davor war er bei einer Arbeit des jungen Amerikaners Dash Snow schwach geworden: »Völlig verrückt und abgedreht: Ein Totenkopf, der auf einer Schallplatte kreist.«
Olbricht sitzt entspannt auf einem Ledersofa im Museum Folkwang, wo er derzeit in eigener Auswahl – als letzte Ausstellung vor Abriss und Neubau – seine Kollektion präsentiert. Und man weiß nicht recht, wie ernst es dem Großsammler wirklich ist, wenn er seine grüblerischen Zwischentöne anstimmt: »Ich glaube, es wäre gut, wenn ich mich mal beruhigte. Wenn ich mir Zeit nähme, Luft zu holen und mich nicht ständig verlocken ließe von den tausend Angeboten, die jetzt hereinflattern.«
Schon unterbricht ein dezenter Klingelton aus der Innentasche die Besinnlichkeit. Der Herr im schicken gelbgestreiften Hemd und dem gut sitzenden Anzug holt das Mobiltelefon hervor. Ein kurzer Satz ins Handy, dann ist er wieder bei der Sache und bemerkt beiläufig: »Das war Christies – in New York sind Auktionswochen.« Ein Umstand, der manch einen der Anrufe erklärt, die Olbricht in den nächsten zwei Stunden zunehmend genervt und geschmeichelt zugleich in Empfang nehmen wird.
Der 1948 im sächsischen Vogtland geborene Chemiker, Mediziner, Unternehmer gehört zu den Erben des Wella-Konzerns. Mit seiner Leidenschaft kokettiert er ein wenig. Olbricht spricht von einem angeborenen Defekt, der ihn schon im Alter von vier Jahren ins Sammelfieber trieb: Zu den frühen Objekten der Begierde zählten Briefmarken, Bierdeckel, Streichholzschachteln oder auch Sanella-Bilder. Als Student hatte er es vor allem auf Jugendstilvasen abgesehen.
Mit Anfang Dreißig entdeckte Olbricht schließlich die bildende Kunst, wohl nicht zuletzt angeregt von seinem Großonkel Karl Ströher und seiner bedeutsamen Kollektion. Das Interesse des Neffen richtete sich zunächst vornehmlich auf deutsche Positionen nach 1945: Fritz Winter, Willi Baumeister, Georg Meistermann, Ernst Wilhelm Nay. Erst in den 90ern stürzte Olbricht sich auf Zeitgenössisches. Cindy Sherman machte damals großen Eindruck auf ihn. In einer New Yorker Galerie kaufte er spontan fünf Werke der amerikanischen Fotokünstlerin.
Es ist jene aktuelle Sparte, die den Supersammler ausmacht. Doch bleibt er immer offen für alle möglichen Richtungen und Epochen: »Ich möchte Basis haben, ich möchte Unentdecktes haben, ich möchte Etabliertes haben, das noch wachsen kann.« Der Mix, sagt er, biete natürlich Angriffsflächen, immer wieder höre er Kritiker sagen: »Na ja, wenn der von allem etwas hat, dann kann es wohl nichts Richtiges sein.« Doch Olbricht bleibt bei seinem unter den großen Sammlerkollegen dieser Welt wohl einzigartigen Ansatz: »Die Vielfalt steckt in mir – das bin ich.«
Ob alt oder neu – was die bevorzugten Inhalte angeht, so zeichnet sich ein durchgehendes Interesse für die Themen des Lebens ab: Olbricht springt vor allem auf gegenständliche Arbeiten an, die um Liebe und Hass, Sex und Gewalt, Geburt, Tod und Vergänglichkeit kreisen. Es können kopulierende Paare sein wie im Bild von George Condo, oder fatale Autocrashs wie bei Dirk Skreber, den Olbricht entdeckte, bevor die Preise in die Höhe schnellten. Es können Andy Warhols Siedruck-»Crosses« sein und die apokalyptischen Visionen der Chapman-Brüder. Mütter mit Kindern kommen vor, Totenschädel in vielen Ausführungen. Oder auch jene liegende Leiche, gut 20 Zentimeter groß, ein Unbekannter hat sie 1520 in Buchsbaum geschnitzt – es ist ein Lieblingsstück des Sammlers. Morbides zieht ihn magisch an.
Das eigene Selbst als bestimmender, zwingender Antrieb – es ist ein Gedanke, der überall in der Kollektion präsent scheint. Olbricht bildet sich ab in den Werken, die er kauft. Und diese Eigenheit bringt er nun auch in seiner Essener Riesenschau zum Tragen. Dass ihm das Museum Folkwang den kompletten Altbau für diese Selbstdarstellung zur Verfügung stellt, sei sicher bedingt durch die Um- und Neubauarbeiten an der Goethestraße, schränkt Olbricht ein. Für ihn ist es gleichwohl eine »unglaubliche Tat«.
Zunächst wollte Museumsleiter Hartwig Fischer gemeinsam mit seiner Stellvertreterin Ute Eskildsen die Wahl der Werke aus dem Riesenfundus selbst treffen. Doch als sie Olbricht ihre Vorschläge präsentierten, winkte der sofort ab. Das sei zu unpersönlich, zu objektiv, so sein Einwand. Und so haben sie ihn dann selbst zum Kurator gemacht.
Olbricht zeigt selbstverständlich überwiegend neue Kunst, mischt sie aber immer wieder mit älteren Stücken. Im Zentrum des Rundgangs installiert er, quasi als »Herz« des Ganzen, eine historisch bestückte »Wunderkammer« voller Vanitas-Symbole und Memento-mori-Motive des 16., 17., 18. Jahrhunderts – kunsthandwerkliche Arbeiten aus Ebenholz, Bernstein, Koralle, Elfenbein. In mystischer Atmosphäre könne man sich hier auf die Wurzeln besinnen, bevor es draußen weitergehe mit den schrillen Zeitgenossen. Eine »Abenteuerreise durch das Museum« schwebte Olbricht bei der Gestaltung seiner Ausstellung vor.
Den Titel der Schau lieh er sich von Moritz Schleimes rätselhaftem Gemälde »Rockers Island«: Der Protagonist, ein bärtiger »Rocker«, steht im Abendrot auf einem Bötchen mit Namen »Rosi«. Seine Kumpels übergeben sich ins blaue Meer, während er selbst den Anker auswirft am Ufer einer unbekannten Insel mit schwebenden Herzen, Bungalows auf Felsen und jubelnden Frauen zwischen Wasserfällen. Ebenso unbestimmt wie die Reise des »Rokkers« hält Olbricht den Rundgang durchs Museum: »Mit Aufs und Abs, mit emotionaler Aufladung. Eine Art Achterbahnfahrt, das war meine Idee.«
Der Trip startet tollkühn: Bezeichnend, dass der Gastkurator noch im Foyer, gleich hinter der Eingangstür, den ersten Schocker platziert. Da hängt die Figur eines kleinen Jungen hoch oben am mittleren von drei Fahnenmasten. Maurizio Cattelans vieldeutige Inszenierung habe schon vor Ausstellungsstart Empörung bei einigen Müttern hervorgerufen, die mit ihren Kindern eine Malstunde im Museum besuchten. Olbricht steht indes zu seinem Paukenschlag. Was ihn interessiere, sei die Spannung, sagt er. Ist der Knabe wirklich tot? Spielt Cattelan auf die Kreuzigung an? Man könne die Bedeutung der Arbeit nicht eindeutig klären.
Es folgen brüllende Löwen, knallige Leuchtschrift und Friedhofsstimmung à la Caspar David Friedrich. Dann ein silberner Tresor mit der Aufschrift »Privat Museum«. Das sei er selbst, sagt Olbricht lächelnd. Da stecke sein Gehirn drin, und nur er allein verfüge über den Schlüssel. Der Sammler hatte sich für die Berichterstatterin zu einer »kurzen« Führung durch seine Ausstellung bereit erklärt. Doch vergisst er bald die zeitliche Beschränkung – offenbar aufs Neue mitgerissen von den eigenen Stücken, den Geschichten dahinter, dem Arrangement des Ganzen. 280 Werke – nie zuvor war diese Kollektion in solcher Fülle zu sehen. Auch wenn das alles natürlich nur ein kleiner Ausschnitt ist.
Olbricht durchwandert die Räume nicht ohne Stolz. Er antwortet bereitwillig und erzählt munter, oft amüsiert über die eigenen Gedankengänge als Sammler und als Kurator. In den »Frauenraum« hängt er Andy Warhols Jackie-Porträt, dazu den Skandal-Kuss von Madonna und Britney Spears in einer malerischen Bearbeitung von Katrin Heichel und, ganz wichtig, Franz Gertschs fotorealistisches Megaporträt von »Irène«, die sich als Prostituierte im Drogen-Milieu früh zugrunde gerichtet hatte. Der Sammler tat das begehrte Werk im Schlafzimmer eines New Yorker Kunsthändlers auf und trat sogleich in Kaufverhandlungen. »Der war knallhart, wollte einen monströsen Preis.« Olbricht hat die Summe am Ende gezahlt und bereut es bis heute nicht. »Das ist etwas Besonderes.« Er würde das Bild nie abgeben. Auch weil es für ihn sehr eindringlich den für die Sammlung so wesentlichen Gedanken des Memento mori spiegele.
Dem aufregenden Part folgt ein entspannter mit ausnahmsweise abstrakten Werken von Nay und Kuno Gonschior, mit dem Olbricht einst vorzüglichen Rotwein genoss, über Sigmar Polke und Damien Hirst bis hin zu Thomas Scheibitz und Sarah Morris, die sich gern von Hochhausfassaden inspirieren lässt.
Spannung ist dann wieder angesagt, wenn Olbricht mit hüllenlosen Liebesspielen in unterschiedlichen künstlerischen Techniken provoziert und sich dafür ausgerechnet einen Raum aussucht, der von draußen gut einzusehen ist: Hier zeige er, sagt er, was alle von ihm erwarteten: Sex und Erotik. Die Anwohner vis-à-vis der großen Fensterfront hätten sich bereits mit wütenden Anrufen im Museum gemeldet, was Olbricht sichtlich erfreut. Es ist wohl etwas dran an der Feststellung einer großen deutschen Wochenzeitung: Tabus zu brechen, bereite dem Sammler »diebische Freude«, hieß es da.
Man sieht sie ihm an. Auch wenn er sich gegen Ende des Parcours über die eigene Profession lustig macht. Über die Ärzte im Allgemeinen und über die Hormonspezialisten im Besonderen. Bei Gregor Schneiders »Mann liegend, mit steifem Schwanz«, sei die Therapie offenbar aus dem Ruder geraten, scherzt der Kurator.
Er kennt sich aus im Metier: Nach seiner Promotion in Chemie und einer weiteren in Medizin erhielt Olbricht eine Professur an der Uni in Essen und betrieb daneben erfolgreich eine inzwischen verkaufte Praxis für Endokrinologie, jene wissenschaftliche Disziplin, die sich mit den Hormonen befasst. Parallel saß er im Aufsichtsrat von Wella, übernahm später dessen Vorsitz und wickelte 2003 den Verkauf des Unternehmens an den amerikanischen Konzern Procter & Gamble ab. Zu all dem kamen zwei Ehen und fünf Kinder zwischen elf und 31 Jahren. Er erzählt, wenn jemand ihn nach seinem Beruf frage, dann antworte er: »Medizinkoordinator und Generalunternehmer.«
Die Bildende Kunst aber, sie sei für ihn eine ganz wichtige Energiequelle, ein Lebenselixier – und der Tausendsassa teilt großzügig aus von seinem Zaubertrank. Wenn internationale Museen um Leihgaben bitten, antwortet der Mann aus Essen immer wieder gerne mit ja.
Diese Auftritte in aller Welt dürften sich nicht zuletzt recht günstig auf die Wertentwicklung seiner Schätze auswirken. Aber Olbricht nennt (und hat) natürlich andere Gründe für seine Großzügigkeit. Er sammle schließlich nicht nur für sich und seinen Tresor – eine »Horrorvorstellung«. Nein, »mein Auftrag ist es, viele Menschen zu erreichen. Humorvoll gesagt, aber doch ein bisschen ernst gemeint: In einer missionarischen Art.«
Es war vielleicht nicht zuletzt dieser Gedanke, der ihn auf die zeitgenössische Kunst brachte. Um Briefmarken oder Jugendstilvasen hat sich kaum jemand geschert. Erst seitdem Olbricht sich vorwiegend auf Gegenwartskunst verlegt hat, steht man Schlange und verschafft dem Sammler dadurch auch Bestätigung – was er offenbar genießt.
Dazu passen Olbrichts Pläne für Berlin, wo er in der Auguststraße so etwas wie einen »Art and Communication Point« aufziehen wird. Kein Museum soll das sein. »Ich will dort viel Wechsel haben, damit die Neugier bleibt.« Der Schwerpunkt liege auf zeitgenössischer Kunst, doch es könne auch einmal etwas Zurückgewandtes vorkommen. Ganz wichtig ist Olbricht dabei das gastronomische Drumherum: Kunst, Bier, Wein, eine Kleinigkeit zu essen. Genau diese Verquickung hält er für wichtig, um heute die Leute zu locken.
Der Ausstellungsrundgang ist inzwischen zum Finale vorgedrungen. Dort trifft man ein Kamel in Napoleonkostüm und -pose. »Das bin ich«, lacht Olbricht. »Ich trage eine Sonnenbrille, damit mich niemand erkennt.« Und hoch über der Tür gibt Jack Piersons Schriftzug im Leuchtkasten den diskreten Hinweis: »Applause«.
Bis 1. Juli 2007. Tel.: 0201/8845-100. www.museum-folkwang.de