Text: Katrin Pinetzki
»Mein Gedichteschreiben könnte ich vergleichen mit Aquarellieren«, sinnierte die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker, »mein Prosaschreiben mit der Arbeit eines Steinmetzen, der mit aller Intensität und Kraft in eine Materie eindringt, die nicht so leicht zu durchdringen ist.« Das Zitat hat Mika Mikrut gefallen, denn es hat sie an ihre Schüler erinnert. Einige von ihnen haben eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. In der Kurzform LRS klingt das wie eine Krankheit. Wika Mikrut hat allerdings nichts Krankhaftes wahrgenommen, sondern eine besondere Begabung dieser Schüler: die Fähigkeit, in Bildern zu denken. Viele Schüler, die sich mit dem Schreiben schwer tun, haben ihrer Erfahrung nach eine besondere, eigenwillige Sicht auf die Welt, die sie künstlerisch nutzen könnten – wenn sie nur gefördert würden. Wika Mikrut fördert diese Schüler. Dass sie dazu Gelegenheit hat, liegt vor allem daran, dass die 52-Jährige keine Lehrerin ist. Weder ein Curriculum noch Leistungsüberprüfungen hindern sie daran, mit den Schülern Tee zu trinken und die Welt der Schrift einmal zu vergessen, sie sogar aufzuessen: Buchstabenkekse gehören zu ihren Unterrichtsstunden dazu. Wika Mikrut ist bildende Künstlerin, die an einer Schule arbeitet. Seit diesem Schuljahr ist sie mit diesem Status keine Exotin mehr. Zwar ist sie die einzige Künstlerin an der Erich-Kästner-Gesamtschule in Bochum, wo sie zurzeit mit Schülerinnen und Schülern der Unterstufe an dem Projekt »Kunstauslesen« arbeitet. In ganz Nordrhein-Westfalen sind es zurzeit jedoch genau 666 Künstler, die mit Schülern aller Altersstufe tanzen oder trommeln, filmen oder singen, inszenieren oder malen. Rund 700 Projekte in 200 Städten fördert die Landesregierung mit dem Programm »Kultur und Schule«, 1,5 Millionen Euro stellte Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff (CDU) dafür zur Verfügung. Wenn es nach dem Willen des Kulturstaatssekretärs geht, wird »Kultur und Schulen« im kommenden Schuljahr nicht nur weiterlaufen, sondern noch ausgeweitet. Doppelt so viele Projekte, mehr Geld, heißt es dann. Vor allem im Ganztagsbereich möchte der Staatssekretär in Zukunft noch mehr Projekte ansiedeln – hier sind die Kommunen mit ihren Ganztagsschulmitteln als Financiers mit an Bord. Grosse-Brockhoff erhofft sich viel davon, dass NRW-Schüler nun eine Künstlerin wie Wika Mikrut ein Schuljahr lang regelmäßig erleben und mit ihr arbeiten. Denn seit den 1960er Jahren hätten sich Kultur und Schule weit voneinander entfernt – eine »ästhetische Bildungskatastrophe« nennt er dies, es sei höchste Zeit, auch kulturelle Bildung wieder wichtig zu nehmen. Dabei hat er keineswegs im Sinn, eine ganze Schüler-Generation für kreative Berufe zu begeistern. »Kultur und Schule« soll auch nicht den Kunstunterricht ersetzen, wie viele Lehrer befürchteten. Für Grosse-Brockhoff bedeuten die Künstler in den Schulen ein Beitrag zur vorbeugenden Sozial- wie zur Integrationspolitik; die Kunst-Projekte sollen, so der Politiker in einem Interview, die kognitiven Fähigkeiten des Hirns verbessern, die Kreativität erhöhen, die Gewaltbereitschaft senken und Sprachhemmnisse überwinden. Ganz schön viel verlangt. Tatsächlich blieben einige Künstler zunächst skeptisch. »Super! Mehr davon«, habe dagegen sie anfangs gedacht, erinnert sich die NRW-Vorsitzende des Bundesverbandes Bildender Künstler (BBK), Inge Kamps. Die Begeisterung habe sich jedoch gelegt, als sie die Details erfahren habe. Wenn man zur Unterrichtszeit noch die Vorbereitung, die Fahrtkosten, vier obligatorische Weiterbildungsseminare und die aufwändige Bewerbung rechnet, für die sich die Künstler bereits eine Schule als Partner suchen mussten, liege die vom Land angebotene Summe von 2000 Euro für 40 Doppelstunden weit unter dem Stundensatz von 25 Euro, den der BKK NRW seinen Mitgliedern empfiehlt. Viele Künstler im Land ließen sich dennoch nicht abhalten – die erste Ausschreibung, zu der knapp 2000 Projektanträge eingingen, übertraf die Erwartungen aus Düsseldorf. Die Auswahl traf eine Jury. Trotz ihres Ärgers hat sich auch die Kölner Medienkünstlerin Inge Kamps mit einem Film-Projekt für Hauptschüler um die Teilnahme am Landesprogramm beworben. »Ich arbeite gern mit Jugendlichen und finde es wichtig, ihnen kulturelle Werte zu vermitteln – das ist meine Motivation«, sagt sie. Auch die Bochumerin Wika Mikrut hat sich nicht wegen, sondern eher trotz des Geldes beworben. Die gebürtige Polin, die seit 1981 in Deutschland lebt, ließ sich nach ihrem Studium an der Kunstakademie Danzig in Jugendkulturmanagement und Kreativitätspädagogik fortbilden. Neben der Kunst ist die Arbeit mit Jugendlichen ihre Leidenschaft, das vermittelt sich schnell in ihren Projektstunden, zu denen dank Mund-Propaganda stets mehr Schüler erscheinen, als eigentlich vorgesehen sind. »Ein Künstler an der Schule ist eine Insel«, sagt Wika Mikrut, »da gelten andere Regeln.« Das sei ganz natürlich: »Schließlich sind gerade Künstler oft Menschen, die in ihrer eigenen Schullaufbahn Regeln gebrochen, die sich unkonform verhalten haben.« Die Insel, die sich Wika Mikrut für ihr Projekt geschaffen hat, liegt im Erdgeschoss gleich neben der Bibliothek der Gesamtschule. Vorhänge verdunkeln den kleinen, mit Teppich ausgelegten Raum. Statt Stühlen liegen hier Sitzkissen, an den Wänden sorgen Kerzen und ein Samowar für orientalische Gemütlichkeit. In der Ecke steht ein bequemer, mit einem schwarzem Samttuch überworfener Sessel, der jedoch leer bleibt: Es ist der Vorlese- und Erzählsessel, in den sich nur setzen darf, wer etwas vorliest oder erzählt, das wissen die Schüler: Marco aus Italien, Pinar aus der Türkei, Waid aus dem Libanon, Jennifer aus Polen, Violetta aus Russland, Steve und Franz und die anderen. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben erfahren die Kids in und durch diesen kleinen, gemütlichen Ruheraum, dass Lesen ein Genuss ist, dass Erzählen Spaß macht, dass Zuhören und Eintauchen in Geschichten auch ohne einen Fernseher oder ein Computerspiel funktioniert. Wika Mikrut ist bildende Künstlerin, doch in ihrem Projekt überschreitet sie die Genregrenzen spielend. »Kunstauslesen« begann mit fünf Märchen aus verschiedenen Kulturkreisen. In kleinen Gruppen hörten die Kinder japanische, persische oder russische Geschichten von einer professionellen Vorleserin, etwa die Geschichte der hilfsbereiten Witwe Varenka, die zusammen mit Flüchtlingen in ihrer kleinen Holzhütte mitten im Wald einen Krieg übersteht, weil ihr Häuschen rechtzeitig eingeschneit und für die Krieger unsichtbar wird. In den folgenden Wochen entwickelten sich die Schüler zu »Buchmalern«: Einzelne Szenen der Geschichte sollten illustriert werden – in einem Malstil, der zum Herkunftsland des Märchens passt. Wika Mikrut hängte Abbildungen russischer Ikonen auf und sprach mit den Schülern über die große Augen der Heiligen auf den Ikonen, ihren goldenen Hintergrund und ihre zweidimensionale Darstellung. Sie brachte eine Kleiderkiste mit, damit sich die Kinder in die Figuren der Geschichte verwandeln konnten. Heute hat sie ein paar Hefte in der Hand. »Wir haben ein Tagebuch von Varenka gefunden und auch von Stjepan, dem Maler und Pjotr, dem Ziegenhirt«, sagt sie, »aber leider die Schrift ist verblasst. Ihr müsst also vom leeren Blatt ablesen. Erfindet etwas! Wer die längste Geschichte erzählen kann, hat gewonnen!« In den zehn Minuten, in denen die Kinder zu zweit eine Geschichte um ihre Figur ersinnen, ist die Kunst-Vermittlerin ein wenig aufgeregt. »Vielleicht ist diese Aufgabe auch zu schwer. Ich mache das zum ersten Mal mit den Schülern und habe es selbst zu Hause probiert – es ist nicht leicht, aus einem leeren Buch vorzulesen«, sagt sie. Eine leichte Überforderung, findet sie, sei jedoch allemal besser als das Gegenteil. »Die Kinder wollen gefordert werden.« Der Erfolg gibt der Künstlerin recht. Alle setzen sich in den Erzählsessel, schlagen das leere Tagebuch auf und beginnen, flüssig »vorzulesen«. »Ich malte ein Bild mit einem Löwen in der Savanne. Dann schlief ich ein«, erzählt der stille Steve, der das Tagebuch des Malers Stjepan bekommen hat. »Auf einmal wachte ich auf und sah neben meinem Bett eine Pfütze aus den Farben des Löwen. Und auf dem Bild war kein Löwe mehr, nur noch die Savanne. – Mir fällt nichts mehr ein!« Seine Mitschüler lachen, doch Wika Mikrut ist begeistert von der Phantasie des Jungen. Die erfundenen Erlebnisse und Gedanken sollen in der nächsten Stunde in die Bilder einfließen – mit dieser Ankündigung verabschiedet Wika Mikrut ihre Schüler, die sich nur zögerlich trennen können. Steve hat noch keine Lust, die Kunst-Insel zu verlassen, er hat einen kleinen Ordner mit selbst gemalten Bildern mitgebracht, den er der Künstlerin zeigen möchte. Die nimmt sich Zeit, lobt seine kleinen Comic-Strips, heulende Wölfe und Pokémon-Zeichnungen: »Das gefällt mir, da hast du mit Schwung und Mut kräftige Farben benutzt.« Mit den Bildern, die die Sechstklässler in den kommenden Wochen vollenden, wird Mikrut im nächsten Schul-Halbjahr weiterarbeiten: Die nächste Projektgruppe wird diese Bilder als Vorlage bekommen, ohne das dazugehörige Märchen zu kennen. Sie wird sich ihre eigene Geschichte zu den Bildern ausdenken und anschließend ein Buch gestalten, das die Geschichte vom Märchen und seiner kunstvollen Fortsetzung erzählt. »Bildsprache ist tatsächlich eine gute Möglichkeit für Kinder aus Migrantenfamilien, sich zu öffnen und mitzuteilen«, sagt Wika Mikrut, die selbst erst mit 28 Jahren deutsch lernte. An einer Schule zu arbeiten, bedeute für einen Künstler keinen Imagegewinn, sagt sie, sei aber sehr notwendig – nicht nur für die Schüler. »Auch wenn es abgedroschen klingt: Ich lerne ebenso viel von den Kindern und bekomme unendlich viel zurück«.