TEXT: VOLKER K. BELGHAUS
Keine Ahnung, wann wir angefangen haben, die Dinger aus den Augen zu verlieren. Es ist ein schleichender Prozess, wenn Gegenstände, die in der Kindheit eine große Bedeutung hatten, langsam aber sicher nicht mehr beachtet und dann schlicht vergessen werden, weil anderes im Leben wichtiger wird. Erst, wenn man nach langen Jahren wieder mit ihnen konfrontiert wird, spult sich ein persönlicher, oft durchsonnter Erinnerungsfilm ab – ach ja, das gab es ja auch mal.
Wie der Kaugummiautomat, der sich irgendwann aus dem Blickwinkel geschoben hat, was auch ganz einfach an der vorgeschriebenen und kindgerechten Mindesthöhe von 80 Zentimeter (gemessen ab der Unterkante) liegen könnte, in der die Automaten in den urbanen Quengelzonen der Hauswände befestigt sein müssen. Man begegnet dem Automaten halt nicht mehr auf Augenhöhe und nimmt deshalb an, dass diese mit den Jahren weniger geworden sind. Ein Eindruck, der trügt, wenn man sich durch die Webseite des »Verbandes Automaten Fachaufsteller e.V. (VAFA)« klickt. Die Nachfrage ist weiterhin groß, die Technologie aktualisiert, und die Firma »Trend Automaten« sucht eigenen Angaben zufolge ständig nach neuen Aufstellplätzen. Jeder, der noch ein Stück Hauswand frei hat, kann sich melden und wird an dem neuen, schicken Warenverteiler mit einer Provision beteiligt.
Andererseits – neu und schön dürfen Kaugummiautomaten eigentlich nicht sein. Sind sie es je gewesen? Die ersten Automaten kamen zwar schon um 1870 in den USA auf, und der erste Kaugummiautomat wurde 1888 in New York auf die Kinder losgelassen, aber so alt sind die bundesdeutschen Exemplare dann auch wieder nicht. Sie sehen nur so aus. Die Farben ausgeblichen, das Gehäuse zerbeult. Da, wo sich die meist rote Farbe abgelöst hat, haben sich Rostflecken gebildet, daneben kleben verwitterte und ausgeblichene Aufkleberreste. Durch das ramponierte Äußere machen auch die Kaugummikugeln im Inneren keinen guten Eindruck – scheinbar sind die bunten Süßigkeiten so alt wie der Automat selbst. Generationen von Müttern und Vätern waren wegen mangelnder Hygiene besorgt. Doch zur Entwarnung sei gesagt, dass die Lebens-mittelsvorschriften auch für Automaten gelten. Mittlerweile müssen die Kugeln sogar einzeln verpackt sein.
Kinder haben diese Bedenken selten beeindruckt. Wichtig war nur, nach dem Einwurf eines Groschens das wohlig-analoge Klick-Klack zu hören,das den etwas schwergängigen Dreh-Mechanismus in Gang setzte. Eine weitere ästhetische Eigenheit der Metallkästen sind die Zeugnisse jugendlichen Vandalismus. Neben Spuren roher Gewalt zeugen tropfenförmige, braunblasige Verzierungen auf den Kunststoffscheiben von den Versuchen, mittels mutwilligen Aufflämmens durch Feuerzeuge an Kaugummis, Flummis und kleine Spielzeuge zu gelangen. Man testete seine pubertäre Credibility, indem man sich an den Wunderkästen der Kindheit abreagierte.
Wolfgang Herrndorf ringt der kindlichen Faszination, auf illegalem Weg an die Süßigkeiten zu gelangen, in seinem Buch »In Plüschgewittern« die nötige Poesie ab. Zwei achtjährige Jungs knacken Kaugummiautomaten und schaffen die Beute in selbstgebaute Höhlen, wo sie im Heu liegen, Kaugummi kauen, bis ihnen die Zähne wehtun. Sie bewerfen die Krähen mit den Kugeln, bis der ganze Acker schließlich mit bunten Punkten übersät ist: »Noch Jahre später fand man dort am Feldrand immer wieder einige zerdetschte Kugeln, die ihre Farbe fast alle ganz verloren hatten bis auf die blauen. Ich glaube, das war die glücklichste Zeit in meinem Leben.«