TEXT: VOLKER K. BELGHAUS
Man kennt das aus den Romantic Comedys – irgendwann ist im Film die große Liebeskummerkrise angesagt, und die Herzgebrochene heult sich bei ihrer besten Freundin aus, natürlich bewaffnet mit einer schuhkartongroßen Maxi-Packung Taschentücher, die man aus einem Schlitz herauszupfen muss. Kann sein, dass es aus dramatischen Gründen im Kino unbedingt eine dieser Großpackungen sein muss, im bundesrepublikanischen Alltag hat sich indes die kleinere »Weichfolienpackung« durchgesetzt.
In blau-weißer Farbgebung, mit dem typischen, geschwungenen Schriftzug und der roten Lasche zum Öffnen, sind die Tempo-Taschentücher zu einem Designklassiker der Jackentasche geworden. Tempo gehört längst zu den »generischen Markennamen«, die entstehen, wenn ein Produkt ohne Konkurrenz auf den Markt gebracht wird, schnell die Marktführerschaft übernimmt und die Konsumenten beginnen, ähnliche Nachfolgeprodukte mit dem selben Namen zu benennen. Die meisten Menschen fragen heute nach einem Tempo, nicht nach einem Taschentuch. Das Blau-Weiß der Packung gilt seit Jahrzehnten der Konkurrenz als Farbvorlage, wenn auch weniger kräftig als das Original, also eher in Richtung der Light-Produkte in helleren Blautönen. Die Unternehmen, die weltweit Tempo-Plagiate auf den Markt werfen, verwenden hingegen ungeniert den Dunkelblau-Ton des Originals oder mixen ein abenteuerliches Dunkellila zusammen. Auch der Markenname als solcher wird sprachlich äußerst kreativ verändert, so gibt es Tampe-, Tango- oder Tampu-Tücher. Eine Sammlung dieser Plagiate lässt sich im Solinger Museum »Plagiarius« bestaunen.
Dabei hat die berühmte Packung einen durchaus langen Entwicklungsweg hinter sich. 1929 wurde das Papiertaschentuch als Patent angemeldet, der Name Tempo stand für den pulsierenden Zeitgeist der 20er Jahre. Schnell setzte sich das Papiertaschentuch gegen die Textilvariante durch; der Hygiene-Aspekt und die entfallende Wasch- und Bügelarbeit überzeugte die Konsumenten. In den 50er Jahren entwickelte Tempo die »Knickpackung«, die man, ähnlich der quadratischpraktischguten Schokolade, in der Mitte aufbrach, um an den Inhalt zu gelangen. Zudem wurde in diesen Jahren der Schriftzug überarbeitet. Ab 1975 führte man die »Z-Faltung« ein, die dafür sorgte, dass sich die Taschentücher ohne langes Fummeln schnell auseinanderfalten ließen. 1978 wurden die bisherigen Packungen aus Pergamin durch die »Weichfolienpackung«, die bis heute im Einsatz ist, ersetzt. In den 80er Jahren folgte dann die wiederverschließbare Packung, außerdem wurde die Produktion nach Neuss verlegt. Später begann man, Sondereditionen zu produzieren. Farbig bedruckte Taschentücher mit Loriot-Motiven, als »Tempo Kids« mit »lustigen Tiermotiven« oder als »Retro Edition im Vintage-Look«, zudem haben Taschentücher mit Mona Lisa-Aufdruck haben längst die Museums-Shops erobert. Auch Schnupfennasen haben ein Recht auf Kitsch.
Das passt zum Schlagersänger Andy Andress, der in seinem Video zu »Tausend Taschentücher« theatralisch und in feinstem Discofox seiner Verflossenen hinterherschmachtet und dabei mit großer Geste Taschentücher aus einer Bigbox herauszupft, um sich imaginäre Tränen abzuwischen: »Ich weine tausend Taschentücher / und alle wegen dir / und jede Träne hab ich gezählt / in meinem Taschentuchpapier«. Während wir uns noch über die biologische Besonderheit wundern, dass der Mann keine Tränen, sondern Wegwerfartikel weint, merken wir, dass wir auch ein Taschentuch brauchen. Ob aus Rührung oder Entsetzen ist noch nicht klar.