INTERVIEW: ULRICH DEUTER
K.WEST: Ihre Bücher sind durchdrungen vom Wissen um eine tiefgrundierte Unsicherheit. Um das Prekäre von Ich, Kunst, Liebe, Realität. Trotzdem fühlt man sich beim Lesen sonderbarerweise wohl, gar getröstet. Kommt dies daher, dass Sie selbst fasziniert sind von, dass Sie verliebt sind in die Unsicherheit?
BOVENSCHEN: Soweit ich etwas über mich weiß, kann ich das nicht bestätigen. Wir leben auf einer sehr dünnen Erdkruste, darunter ist ein höllisches Magma. Auch die Zivilisationskruste ist sehr dünn. In meiner Kindheit habe ich die Trümmer des letzten Krieges noch gesehen. Da ich mein Leben lang von vielen Krankheiten, darunter auch sehr gefährliche, heimgesucht wurde, kenne ich auch die Hinfälligkeit unserer Körper. Dergleichen liebt man nicht. Gleichwohl kann man Vieles lieben, was dagegen steht. Beispielsweise die Liebe selbst, die Kunst und auch Partikel dessen, was man landläufig Realität nennt.
K.WEST: »Heute aber liebe ich kleine Schieflagen und Vergeblichkeitsignale in gekonnten Stilisierungen«, sagen Sie in Ihrem sehr persönlichen Buch »Älter werden«. Das Unglück ist, zumindest unter literarischen oder ästhetischen Gesichtspunkten, letztlich doch der ergiebigere Zustand?
BOVENSCHEN: Können Sie sich einen Roman vorstellen, in dem über 300 Seiten ausschließlich vom Glück der Protagonisten die Rede ist? Selbst der Trivialroman benötigt das Unglück, um zum Glück zu kommen. Im Denken und im Schreiben über Schieflagen, Vergeblichkeiten und das Unglück liegt ein Erbarmen mit der leidenden Kreatur und ihrer fundamentalen Unzulänglichkeit, zugleich aber auch eine Hybris, als könnten wir uns, indem wir das zur Sprache bringen, tatsächlich darüber erheben.
K.WEST: Georg Laub, erfolgreicher Schriftsteller, steigt aus aus dem Betrieb und taucht ab. In der Tat ist das Streben nach immer mehr – »Supersize me!« – ekelhaft. Aber die Verkargung, die Laub jetzt zelebriert, ist auch nur eine Attitüde – was Laub selbst erkennt. Patt? Oder was kann man überhaupt noch tun?
BOVENSCHEN: Für die, die den Roman nicht kennen, muss man sagen, dass dieser Georg Laub, bevor die Handlung einsetzt, auf dem besten Wege gewesen war, sich in schäbiger Weise den Gesetzen des Showbusiness und des literarischen Mainstreams zu unterwerfen (darauf gibt es ganz deutliche Hinweise), dass er darin aber gescheitert war, und dass er daraufhin (hier lernen wir ihn kennen) in der Attitüde der Verkargung sein Scheitern zu zelebrieren sucht und schließlich auch darin noch scheitert. Georg Laub ist aber, so wie ich ihn sehe, zu intelligent, um sich der schlechten Alternative von opportunistischer Betriebsamkeit und naivem Aussteigertum zu unterwerfen. Aber liegt da wirklich das Problem? Offensichtlich befindet er sich in einer Krise, die weit über die üblichen in einer Schriftstellerexistenz hinausweist. Er taumelt. Er findet seinen Weg, seinen Ort in der Welt nicht mehr (Interpretation Bovenschen). Vielleicht ist ihm – um es mit den Worten eines anderen zu sagen – hienieden nicht zu helfen. Ich finde den Text über Strecken komisch. Aber mit der Wirkung, das ist ja immer so eine Sache.
K.WEST: Ja, das riesige Loch in der Wand, vor dem Georg Laub in seinem verfallenden Aussteigerhäuschen sitzt, ist wirklich komisch – weil es so metaphorisch ist. Aber auch, wenn die kluge Autorin hinter diesem Loch nichts Besonderes versteckt, auch wenn die fünfte Tür, die Laubs Kumpel Fred Mehringer unbedingt öffnen will, eine Blindtür ist – am Ende gerät der gescheiterte Laub in eine Anderwelt, von der wir nur erfahren, dass sie wunderbar ist. Er wird dorthin durch eine Art Buch gelockt – »Ein Buch wird kommen«, heißt es in Ihrem »Älter werden«, »das die Türen öffnet zu anderen Räumen und das Verschwinden begünstigt.« Gibt es Erlösung? Und wenn, auch innerweltlich? (Also nicht nur so, wie Kleist sie fand, auf den Sie anspielen…)
BOVENSCHEN: Einmal – es war in aller Frühe, die Sonne war gerade aufgegangen und wärmte mich schon sanft – saß ich auf einer Klippe und schaute auf das glitzernde Mittelmeer und den Ätna. Dabei aß ich ein Mandelgebäck, das mit saftigen kandierten Früchten versetzt war – und ich war vollkommen glücklich. Alle Zeit, alle Erdenschwere war von mir abgefallen. Das Wort Erlösung ist vielleicht zu groß dafür. Aber es lag auch mehr als ein Glück in diesem »Verweile doch«.
K.WEST: Das Nunc stans? Der »Schwebezustand zwischen Zähneputzen und Ewigkeit«, von dem die Figur Celia in Ihrem Buch »Verschwunden« schwärmt? Aber Celias sie beglückende »Innenbeleuchtung« (eine wunderbare Formulierung!) ist der Vorschein ihres Endes. Sie bringt sich um. Und sobald Faust »Verweile doch« sagt, ist es dito vorbei mit ihm. Ist Tod die Erlösung? Das große Verschwinden ist er auf jeden Fall. Und Sie lieben das Verschwinden.
BOVENSCHEN: Wer wäre nicht einmal versucht gewesen, einem plötzlichen wilden Impuls folgend, in einen Zug oder ein Flugzeug zu steigen und zu verschwinden, noch einmal irgendwo ein neues Leben zu finden. Sie haben recht: Mich interessieren die »Zwischenräume«. Das nicht Entschiedene, nicht Absehbare, das Mögliche. Hier hat die Literatur eine Zuständigkeit. Selbstverständlich gibt es Zustände im Leben, in denen der Tod eine Erlösung ist. Ein schlauer Grieche hat einmal behauptet, dass uns der Tod nicht beunruhigen müsse, denn solange wir noch da seien, sei er nicht da, und sobald er da sei, seien wir nicht mehr da. Da ist was dran, aber vielleicht ist es doch etwas zu schlau. Ich glaube, die Furcht vor dem endgültigen Verschwinden, vor allem dem der geliebten Menschen, begleitet uns durch das ganze Leben. Der Tod ist immer schon da, in der Jugend kaum spürbar, im Alter aufdringlich, in den beschwingten Tagen fast zärtlich, und ganz besonders im Glück. Über den Tod selbst habe ich nichts zu sagen. Ich respektiere, dass fromme Menschen in einer weitergehenden Perspektive Trost finden, da mir aber deren Grundannahmen über den Sinn aller uns zugänglichen Erscheinungen nicht plausibel sind, ist das mein Thema nicht.
K.WEST: In zumindest zweien Ihrer Bücher gibt es über dem Geschehen schwebende Instanzen, seltsame Außerirdische in »Wer weiß was«, namenlose sich Kümmernde in »Georg Laub«. Wären Sie damit zufrieden zu sagen, das seien Erscheinungsformen des Auktorialen, ein autoreferenzielles Spiel?
BOVENSCHEN: Es ist mehr als ein Spiel. Vielleicht sogar eine Notgeburt. Die auktoriale Erzählhaltung ist zur Zeit die einzige, die für mich wirklich brauchbar ist, die mir einleuchtet. Aber ich will dieser Stimme nicht zu viel Macht geben. Es muss Gegenmächte geben, die sie relativieren, zuweilen sogar lächerlich machen. Übrigens können in »Georg Laub« die Leser genau wissen, wer diese »Kümmernden« sind.
K.WEST: Die Künstlergruppe, die Georg Laub – wie das magische Theater im »Steppenwolf« – bedrängt und in surreale Situationen lockt, trägt den sonderbaren Namen »Sammuramat Denk«. Wenn ich nun herausgefunden habe, dass »Sammuramat« anagrammatisch »Mamas Traum« ergibt, lachen Sie dann?
BOVENSCHEN: Ja, ich lache. Ich lache vergnügt, weil ich mich darüber freue, dass man doch immer wieder Überraschendes in solchen Romanen finden kann. Und ist es nicht auch lustig, wenn man bedenkt, dass »Mamas Träume« am Ende von einer so heruntergekommenen Truppe inszeniert werden? Aber vielleicht handelt es sich bei diesem Schmierentheater doch nicht um die Wiedergabe mütterlicher Albträume. Man könnte ja auch fragen, ob es diese Truppe und ihr Gaukelwerk wirklich gibt. Ist dieser ganze Theaterspuk vielleicht nur den nächtlichen Fieberträumen des Protagonisten entsprungen? Und besteht nicht darüberhinaus auch die Möglichkeit, dass wir es mit den letzten von ihm verworfenen Schreibversuchen Georg Laubs zu tun haben? Mir scheint, es gibt für all das Hinweise im Text.
K.WEST: Sie waren eine bekannte Kulturwissenschaftlerin und Essayistin, als Sie 2006 für das Publikum überraschend den Schutz des Akademischen verließen und ein Buch herausbrachten, »Älter werden«, in dem Sie sehr Persönliches preisgaben, unter anderem Ihre Krankheit, die Sie an den Rollstuhl fesselt. Was bringt einen dazu, auf einmal ich zu sagen? Was gibt einem den Mut zu glauben, dass andere von einem selbst hören wollen? Und was geschieht dabei mit einem selbst?
BOVENSCHEN: Ich hatte das Angebot, einen langen Essay über »das Alter« zu schreiben. Quasi ein schmales Buch. Das kam nicht zustande. Zum einen aus gesundheitlichen Gründen, zum anderen hatte ich Probleme mit diesem Thema. Natürlich hatte ich brav gearbeitet, hatte Einschlägiges gelesen, von den Schriften der Alten bis zu den Publikationen unserer Tage. Aber ich hatte keine originelle Idee, die über das dort Gefundene hinausging. Nach dem Alter kommt der Tod. Der Prozess ist unumkehrbar. Aber (so dachte ich, als es mir wieder besser ging), das Älterwerden beginnt doch mit dem ersten Atemzug, und ich kann mir ja mal über die Frage Gedanken machen, wann mir das auch in jüngeren Tagen einschneidend bewusst wurde. Und ich begann, hierzu alles, was mir einfiel, zu Papier zu bringen. Nur für den privaten Gebrauch. Mein Freund Jörg Bong (vom S. Fischer Verlag) hat mich dann überredet, diese Notizen zu veröffentlich. Ich gebe zu, mir war zunächst nicht wohl dabei, wegen der von Ihnen angesprochenen Preisgaben. Das Buch, das ja auch schon kleine Erzählpassagen enthält, wurde sehr gut aufgenommen. Der Erfolg hat mich ermutigt, einen alten Traum zu realisieren, nämlich erzählend zu schreiben. Ich glaube aber, ich hätte es ohne dies getan. Und ich werde es weiterhin tun, auch wenn die Zustimmung ausbliebe. Gewiss, ich würde mich weiterhin etwas ärgern über eine negative Kritik, aber ich kenne weit schlimmere Heimsuchungen (s.o.). Der öffentliche Applaus, das ist nicht meine wichtigste seelische Nahrung. Das Erzählen ist inzwischen Sucht.
Silvia Bovenschen: »Wie geht es Georg Laub?« Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2011. 286 Seiten, 18,95 Euro
Silvia Bovenschen am 17. März, 18 Uhr im Rahmen der Lit.Cologne im Kölner Schauspielhaus. www.litcologne.de