TEXT: ANDREAS WILINK
»Wir schöpften aus der nie versiegenden Quelle des Krieges«, heißt es bei Katja Petrowskaja in ihrem Roman »Vielleicht Esther«. Auch die in Berlin lebende Israelin Yael Reuveny tut dies. Sie legt in ihrer staunenswerten Dokumentation die Biografie ihres Onkels offen, dem Bruder ihrer Großmutter. Eine vergilbte Fotografie zeigt die Geschwister Michka und Feiv’ke aus Wilna in inniger Nähe. Nachdem die Familie von den Nazis mit Ausnahme der beiden ermordet worden war, hören die zwei Überlebenden, dass der jeweils andere in Lodz gesehen worden sei. Aber sie verpassen oder vermeiden einander. Michka wandert nach Palästina aus, gründet in Israel ihre Familie und betrat nie wieder deutschen Boden. Feiv’ke indes verschließt seine Identität in sich, lässt sich nieder in Schlieben bei Chemnitz, wo er als Gefangener inhaftiert war, heiratet am Ort, wird Vater, nennt sich Peter Schwarz, liegt begraben auf dem christlichen Friedhof. Hätte Spielberg das inszeniert, würde man sagen: dramaturgisch unglaubwürdig.
Was ist Heimat? Und wo ging sie zu Bruch unterwegs von Vilnius über Buchenwald, Treblinka und Lodz bis Tel Aviv und Berlin? Wie hält jemand mit einem solchen Hintergrund die Diaspora aus? Yael, die mit ihrer Recherche »die Klauen der Geschichte lockern« will, sucht in ihrem auf den Dok-Festivals von Leipzig und Haifa ausgezeichneten Film »Schnee von Gestern« Antworten für sich, für ihre Eltern und den unbekannten Onkel, trifft dessen die Familienbande neu knüpfen wollenden Sohn, die sich »betrogen« fühlende Tochter und die Schwägerin, die sagt, für Peter Schwarz sei »das Thema tabu« gewesen. Yael streift durch die kleine Stadt, den Wald mit der Fabrik, wo die Inhaftierten zwangsweise arbeiten mussten, den Lager-Baracken, die zu Bungalows umgebaut wurden.
Peter Schwarz nahm nie Kontakt zu seiner ursprünglichen Familie auf. Aus Schuld, Scham, Angst? Was ist Verleugnung? Was heilsames Schweigen? Ein Gegenleben. Wie wirkt es sich aus auf die Folge-Generationen? Den letzten Knoten – fast eine Pointe – bildet Peter Schwarz’ Enkel Stefan, der in der Berliner Synagoge Oranienstraße als wissenschaftliche Hilfskraft jobbt, Hebräisch lernt, über seinem Bett die israelische Flagge hängen hat und ins Gelobte Land reist, um den Talmud zu studieren, an der Klagemauer zu beten und die Leute seines Vaters zu treffen. Mit Yaels Mutter und seiner Kusine steht Stefan am Grab von Großmutter Micha: Sie haben nach der Tradition Steinchen niedergelegt. Steine aus Deutschland von Peter Schwarz’ alias Feiv’kes letzter Ruhestätte. Gottes Wege sind seltsam.
»Schnee von Gestern«; Regie: Yael Reuveny; D / Israel 2013; 98 Min.; Start: 10. April 2014.